Warum das Bekenntnis der Linken zu westlichen Werten problematisch ist
Seite 2: Zwischen Idealen, Sachzwängen und Eigeninteressen
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Permanenter Anpassungszwang verlangt neben eigenen Bedürfnissen und den realen Lebensumständen nach Kompromissen, was die Glaubwürdigkeit besonders jener Linken auf die Probe stellt, die verantwortliche Positionen bekleiden.
Dass Standfestigkeit mit der Zeit bröckeln kann, dokumentierten die Grünen, als sie ihre pazifistische Grundhaltung sukzessive aufgaben. Noch am ehesten sind Personen vor opportunistischer Anpassung gefeit, die durch dramatische Ereignisse wie den Zweiten Weltkrieg, die Protestbewegung der 60er und 70er oder die Wende Anfang der 90er-Jahre geprägt wurden.
Für artikulationsfähige Linke mit einem größeren Kreis von Lesern bzw. Zuhörern haben persönliche Freiheiten vielfach einen höheren Rang als die sozioökonomische Lage der Massen. Eine Einschränkung von Meinungsfreiheit und demokratischen Grundrechten beschneidet ihre Entfaltungsmöglichkeiten, während sie von Lohndrückerei, Arbeitsplatzverlust und Sozialabbau allenfalls am Rande betroffen sind.
Noch weniger tangieren sie Hunger, Armut und medizinische Unterversorgung, wie sie in wirtschaftlich schwach entwickelten und von Kriegen überzogenen Weltregionen bestehen. Gleichwohl verteidigen sie ihre Präferenz mit dem Hinweis, dass freie Meinungsäußerung Voraussetzung sei, um den Interessen der benachteiligten Massen Geltung zu verschaffen.
Wenn die Linke eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der unteren Gesellschaftsschichten neben ökologischen Forderungen als Hauptziel deklariert, unterscheidet sie sich nicht prinzipiell von Wohltätigkeitsorganisationen, ja nicht einmal von anderen Parteien.
Erheben deren Vertreter den Anspruch, sich für die Belange einfacher Bürger einzusetzen, dann meinen sie es überwiegend ernst. Denn ein hoher Zufriedenheitsgrad schlägt sich in guten Wahlergebnissen nieder, was ihnen persönlichen Nutzen bringt.
Da sich die staatstragenden Parteien des Westens aber neoliberalen Prinzipien unterwerfen, stützen sie wirtschaftliche und politische Strukturen, die die Elite begünstigen. Dies geschieht nahezu ausnahmslos zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit. Für die Parteiführer wird es somit immer schwieriger, die Wählerschaft mit Versprechungen zu ködern.
Ebenso wenig lassen sich innerhalb des vorhandenen Rahmens essentielle Forderungen der Linken durchsetzen. Zum einen sind die Spielräume minimal, zum anderen ist der politische Alltag zunehmend durch Abwehrschlachten geprägt. Diese Erfahrungen macht die Linkspartei in kommunalen und Landesregierungen, und dass es auf staatlicher Ebene kaum anders aussieht, erlebt die Linkskoalition in Portugal.
Akzeptanzängste als Hürde für eine Neuorientierung
Grundlegende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft sind augenscheinlich nicht realisierbar, solange die neoliberale Doktrin vorherrscht. Die Linke wäre daher aufgefordert, die bestehenden Sachzwänge aufzudecken und die politischen Träger und Unterstützer der neoliberalen Agenda als Kontrahenten zu betrachten. Diese sind in erster Linie die US-Regierung, die Führungsinstanzen von EU und Nato sowie die staatstragenden Parteien Deutschlands.
Kritik von links ist jedoch meist halbherzig, um nicht die Akzeptanz als Teil der westlichen Wertegemeinschaft aufs Spiel zu setzen. Besonders großen Druck verspürt die Linkspartei, da sie andernfalls aus dem "demokratischen Spektrum" gedrängt und als nicht kooperationsfähig betrachtet werden könnte.
Sie würde - wie es bereits einigen kritischen Intellektuellen erging - das Ziel von Diffamierungen und Unterstellungen durch einflussreiche Medien und Politiker werden und müsste damit rechnen, auf vielfältige Weise drangsaliert zu werden.
Gleichsam wäre die Linke aufgefordert, selbst auf Distanz zum neoliberalen Mainstream gehen. Soll sie sich nun mit jenen Kräften solidarisch erklären, die in dessen Schusslinie geraten sind, oder zumindest einen fairen Umgang mit ihnen verlangen?
Da es sich bei den Betroffenen zu einem großen Teil um autokratische Herrscher und Rechtspopulisten handelt, weisen Vertreter der Linken ein solches Ansinnen von sich. Stattdessen sehen sie sich veranlasst, zur Rettung westlicher Werte und zur Verteidigung emanzipatorischer Errungenschaften mit den Neoliberalen an einem Strang zu ziehen. Zuweilen drängen sie sich in die vorderste Reihe, um ihre "Demokratiefähigkeit" unter Beweis zu stellen.
Dabei waren es oftmals autoritäre Regierungen, die sich nachhaltig für die Interessen der Bevölkerungsmehrheit einsetzten. Erinnert sei etwa an die Sozialgesetzgebung unter Bismarck, mit der die Altersarmut erheblich reduziert wurde.
Nach dem Wirtschaftseinbruch zu Beginn der 1930er-Jahre gelang es dem Hitler-Regime, den Menschen mittels Arbeitsbeschaffungs- und Sozialprogrammen eine Perspektive zu bieten und den Massenwohlstand anzuheben.
Obwohl die zugrundeliegenden Motive jeweils die Zurückdrängung der Arbeiterbewegung und eine Stärkung des Nationalbewusstseins mit dem Ziel bedingungsloser Unterwürfigkeit waren, was schließlich die Führung von Kriegen ermöglichte, wurden zugleich linke Kernforderungen umgesetzt.
Dass eine Politik im Interesse der Mehrheit der Bürger notwendig demokratischer Verhältnisse nach westlichem Verständnis bedürfe, hat die Volksrepublik China während der letzten Jahrzehnte eindrucksvoll widerlegt. Nach dem als zuverlässig geltenden "Edelman Trust Barometer" erfährt deren politische Führung eine deutlich größere Zustimmung als die Regierungen westlicher Staaten.
Sollte es ihr, wie vielerorts unterstellt wird, vorrangig um Machterhalt gehen, dann erscheint dies kaum verwerflich, wenn zugleich die Wünsche und Erwartungen der Bürger erfüllt werden. Noch ein Kuriosum am Rande: Trotz Einschränkung individueller Freiheiten als dem Kern westlichen Werteverständnisses nehmen nach Forschern des Dalia Research nur 20 Prozent der Chinesen ein Demokratiedefizit wahr, bei Werten von 27 Prozent für Deutschland und 36 Prozent in Frankreich.
Wenn das westliche Wertesystem schon kein Garant für steigende Lebensqualität der Bürger ist, wie sieht es hinsichtlich der zweitwichtigsten Forderung der Linken, der Sicherung des Friedens aus? Zwar gelten autokratische Herrscher als machtgierig und unberechenbar.
Um jedoch die Bevölkerung auf Kriegshandlungen einzustimmen, bedurfte es jeweils eines soliden Vertrauens in die politische Elite. Mit Appellen an nationale, religiöse und zivilisatorische Werte musste kaschiert werden, dass es in Wahrheit um Wirtschaftsinteressen und ein Streben nach politischer Dominanz ging.
Hierbei erwiesen sich die Staaten der "westlichen Wertegemeinschaft" besonders erfolgreich, was die unzähligen militärischen Aggressionen von den früheren kolonialen Eroberungen bis zu den heutigen Einsätzen für den Erhalt der neoliberalen Ordnung belegen.
Trotz dieser Befunde soll das hiesige Wertesystem nicht pauschal verdammt werden. Vielmehr stellt sich der Linken die Aufgabe, neoliberales Gedankengut zu identifizieren und zu eliminieren. Dass dies überhaupt eindringen konnte, ist augenscheinlich der Verabsolutierung des Freiheitspostulats zu Lasten von Gemeinwohl und friedlicher Koexistenz geschuldet.
Zwischen beiden Zielsetzungen muss ein ausgewogenes Verhältnis angestrebt und zugleich das Tor für neoliberale Einflussnahme versperrt werden. Diese betrifft zwar vornehmlich den Wirtschaftssektor, sie schlägt sich jedoch spürbar im allgemeinen Werteverständnis nieder. Auf welche Weise es geschieht, wird in den folgenden Teilen dieser Serie illustriert werden.
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