Warum der Hamas-Anschlag eine Zäsur für Israel und Palästina bedeutet

Seite 2: Eine Herausforderungen für die israelische Demokratie

Zugleich melden sich – außerhalb des nationalen Konsenses stehend – jüdische und arabisch-palästinensische Stimmen zu Wort, die sich mit der Zuspitzung des Konflikts nicht abfinden, sondern gemeinsam für Menschenrechte, Verhandlungen und Frieden eintreten. 30 zivilgesellschaftliche Organisationen unterzeichneten am 13. Oktober 2023 eine Erklärung, in der es u. a. heißt:

Selbst jetzt – gerade jetzt – müssen wir unsere moralische und humane Einstellung beibehalten und uns weigern, der Verzweiflung und dem Bedürfnis nach Rache nachzugeben. (…) Auch in dieser schrecklichen Zeit bleibt es unsere Pflicht, unsere Stimmen laut und deutlich gegen die Verletzung aller unschuldigen Zivilisten – sowohl in Israel als auch in Gaza – zu erheben.

Auf dem Prüfstand stehen zugleich die Reaktionen der internationalen Linken. Am 15. Oktober wandten sich mehr als 60 israelische Intellektuelle und Friedensaktivisten, unter ihnen der Schriftsteller David Grossman, die Soziologin Eva Illouz und der ehemalige Knesset-Abgeordnete Dov Khenin, in einem offenen Brief an die "globale Linke".

Frustriert angesichts mangelnder Empathie gegenüber den israelischen Opfern und zahlreicher antisemitischer Vorfälle brachten sie ihre Enttäuschung über die "unangemessene Reaktion" amerikanischer und europäischer progressiver Kräfte auf das Hamas-Blutbad zum Ausdruck. Sie betonten:

In diesem Moment brauchen wir mehr als jemals zuvor die Unterstützung und die Solidarität der globalen Linken, in Form eines eindeutigen Aufrufs gegen willkürliche Gewalt gegen Zivilisten auf beiden Seiten.

Noch kann niemand voraussagen, ob die "Idee vom Frieden" tatsächlich "kaputt" ist, wie Christian Meier in der FAZ am 17. Oktober 2023 schrieb. In der Vergangenheit öffnete sich wiederholt nach Zuspitzungen im Nahostkonflikt – Jom Kippur-Krieg, Erste Intifada – ein Fenster für Verhandlungen über Sach- oder Zeitkompromisse.

Insbesondere internationale Akteure sehen aktuell die Stabilität der Region durch einen möglichen Flächenbrand auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, gefährdet. Sie dürften versuchen, eine Einhegung des Konflikts zu erreichen. Zugleich steht die Frage nach dem Zustand der innerisraelischen Demokratie erneut auf dem Prüfstand.

Die weltanschaulichen, sozialen, ethnischen und politischen Spannungslinien innerhalb Israels sind trotz des aktuellen Zusammenrückens angesichts der Gefahren von außen nicht verschwunden. Religiöse und Säkulare, Aschkenasim und Misrachim, Juden und Araber werden nach dem Krieg weiter um die Realisierung ihrer gesellschaftlichen Visionen ringen.

Zu erwarten ist freilich, dass sich die Rechtsentwicklung der Gesellschaft, die sich in den letzten Jahren in verstärktem Rassismus und Siedlergewalt manifestierte, beschleunigt fortsetzt. Israel wird nach dem Krieg nicht mehr das Land sein, das es zuvor war.

Die liberalen, demokratisch orientierten Kräfte stehen vor neuen Herausforderungen und werden die Sympathie und konkrete Unterstützung der "globalen Linken" benötigen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Welttrends. Er wird abgedruckt in der kommenden Magazinausgabe.

Dr. sc. phil. Angelika Timm, geb. 1949, war von 2002 bis 2007 Gastprofessorin an der Bar-Ilan Universität in Ramat Gan in Israel. Von 2008 bis 2015 leitete sie das Büro der Rosa-Luxemburg-Stifung in Tel Aviv.