Warum der Hamas-Anschlag eine Zäsur für Israel und Palästina bedeutet
Der Anschlag war ein Schock. Viele Israelis sehen zum Krieg keine Alternative. Doch die Eruption kann auch ein Fenster für Friedensgespräche öffnen.
Im Mittelpunkt des Anfang September 2023 verfassten Beitrags "Quo Vadis Israel? Historie – aktuelle Konflikte – Weichenstellungen für die Zukunft", veröffentlicht in WeltTrends 198, stand die damalige innenpolitische Situation Israels. Diese jedoch hat sich durch den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober derart verändert, dass einige der neuen Herausforderungen und Tendenzen in einem Nachtrag benannt werden sollen.
Das Vordringen bewaffneter Hamas-Kämpfer aus Gaza auf israelisches Territorium, die Eroberung israelischer Grenzposten und die Ermordung von mindestens 1200 Israelis, unter ihnen zahlreiche Frauen, Kinder und ältere Menschen, in Ortschaften und Kibbuzim in Grenznähe sowie die Verschleppung von 240 Geiseln nach Gaza haben nicht nur international Abscheu und Protest hervorgerufen, sondern auch die innenpolitische Situation des Landes gravierend verändert.
Entsetzen, Trauer und Wut angesichts des Massakers verbinden die Bürgerinnen und Bürger auf neue Weise. Das Land befindet sich im Kriegszustand. Die noch zuvor gespaltene Gesellschaft rückt zusammen.
Nicht die Justizreform der Regierung treibt die Menschen nunmehr um, sondern die dramatische Zuspitzung des israelisch-palästinensischen Verhältnisses. Gravierende regionale und internationale Weiterungen sind nicht auszuschließen. Der 7. Oktober 2023 dürfte als Zäsur in die Geschichte Israels und des Nahostkonflikts eingehen.
Über Hintergründe und Auswirkungen des islamistischen Überfalls wurde bereits vielfältig referiert und geschrieben. An dieser Stelle sei daher vor allem auf unmittelbare innenpolitische Folgen verwiesen. Der Hamas-Angriff traf Israel unvorbereitet.
Seine Wirkungen versetzten dem Nimbus der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee bzw. der Aufklärungsfähigkeit der Geheimdienste einen gravierenden Schlag. Die aus dem Holocaust gezogene Lehre, Israel sei ein sicherer Hafen für Juden aus aller Welt, wurde infrage gestellt.
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In einer am 20. Oktober 2023 veröffentlichten Meinungsumfrage verlangten 80 Prozent der Befragten daher, Ministerpräsident Netanjahu müsse die Verantwortung für die Ereignisse vom 7. Oktober und der Folgezeit übernehmen. Es ist zu erwarten, dass sich nach Kriegsende Untersuchungskommissionen mit den Fehleinschätzungen von Politik, Armee und Geheimdiensten beschäftigen werden.
Zunächst jedoch stehen Teile der bisherigen Opposition zur aktuellen Regierung. So trat Benjamin Gantz, Verteidigungsminister im Kabinett Bennett-Lapid von 2021 bis 2022, am 11. Oktober 2023 einem ausschließlich für das Kriegsmanagement zuständigen Notstandskabinett bei. Oppositionsführer Jair Lapid lehnte seinen Eintritt in die Regierung ab, da seiner Bedingung, zuvor die rechtsextremistischen Minister Smotrich und Ben-Gvir ihrer Posten zu entheben, nicht stattgegeben wurde.
Die Mehrheit der israelischen Bürgerinnen und Bürger sieht nach den Mordtaten an der südlichen Grenze keine Alternative zu einem Krieg gegen die Hamas. Die islamistische Partei und ihre Milizen sollten zerschlagen bzw. zumindest handlungsunfähig gemacht werden.
Zwei Wochen nach dem Massaker sprachen sich 65 Prozent der Befragten für eine israelische Bodenoffensive in Gaza aus; lediglich 21 Prozent lehnten ein solches Vorgehen ab.
Eine Herausforderungen für die israelische Demokratie
Zugleich melden sich – außerhalb des nationalen Konsenses stehend – jüdische und arabisch-palästinensische Stimmen zu Wort, die sich mit der Zuspitzung des Konflikts nicht abfinden, sondern gemeinsam für Menschenrechte, Verhandlungen und Frieden eintreten. 30 zivilgesellschaftliche Organisationen unterzeichneten am 13. Oktober 2023 eine Erklärung, in der es u. a. heißt:
Selbst jetzt – gerade jetzt – müssen wir unsere moralische und humane Einstellung beibehalten und uns weigern, der Verzweiflung und dem Bedürfnis nach Rache nachzugeben. (…) Auch in dieser schrecklichen Zeit bleibt es unsere Pflicht, unsere Stimmen laut und deutlich gegen die Verletzung aller unschuldigen Zivilisten – sowohl in Israel als auch in Gaza – zu erheben.
Auf dem Prüfstand stehen zugleich die Reaktionen der internationalen Linken. Am 15. Oktober wandten sich mehr als 60 israelische Intellektuelle und Friedensaktivisten, unter ihnen der Schriftsteller David Grossman, die Soziologin Eva Illouz und der ehemalige Knesset-Abgeordnete Dov Khenin, in einem offenen Brief an die "globale Linke".
Frustriert angesichts mangelnder Empathie gegenüber den israelischen Opfern und zahlreicher antisemitischer Vorfälle brachten sie ihre Enttäuschung über die "unangemessene Reaktion" amerikanischer und europäischer progressiver Kräfte auf das Hamas-Blutbad zum Ausdruck. Sie betonten:
In diesem Moment brauchen wir mehr als jemals zuvor die Unterstützung und die Solidarität der globalen Linken, in Form eines eindeutigen Aufrufs gegen willkürliche Gewalt gegen Zivilisten auf beiden Seiten.
Noch kann niemand voraussagen, ob die "Idee vom Frieden" tatsächlich "kaputt" ist, wie Christian Meier in der FAZ am 17. Oktober 2023 schrieb. In der Vergangenheit öffnete sich wiederholt nach Zuspitzungen im Nahostkonflikt – Jom Kippur-Krieg, Erste Intifada – ein Fenster für Verhandlungen über Sach- oder Zeitkompromisse.
Insbesondere internationale Akteure sehen aktuell die Stabilität der Region durch einen möglichen Flächenbrand auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, gefährdet. Sie dürften versuchen, eine Einhegung des Konflikts zu erreichen. Zugleich steht die Frage nach dem Zustand der innerisraelischen Demokratie erneut auf dem Prüfstand.
Die weltanschaulichen, sozialen, ethnischen und politischen Spannungslinien innerhalb Israels sind trotz des aktuellen Zusammenrückens angesichts der Gefahren von außen nicht verschwunden. Religiöse und Säkulare, Aschkenasim und Misrachim, Juden und Araber werden nach dem Krieg weiter um die Realisierung ihrer gesellschaftlichen Visionen ringen.
Zu erwarten ist freilich, dass sich die Rechtsentwicklung der Gesellschaft, die sich in den letzten Jahren in verstärktem Rassismus und Siedlergewalt manifestierte, beschleunigt fortsetzt. Israel wird nach dem Krieg nicht mehr das Land sein, das es zuvor war.
Die liberalen, demokratisch orientierten Kräfte stehen vor neuen Herausforderungen und werden die Sympathie und konkrete Unterstützung der "globalen Linken" benötigen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Welttrends. Er wird abgedruckt in der kommenden Magazinausgabe.
Dr. sc. phil. Angelika Timm, geb. 1949, war von 2002 bis 2007 Gastprofessorin an der Bar-Ilan Universität in Ramat Gan in Israel. Von 2008 bis 2015 leitete sie das Büro der Rosa-Luxemburg-Stifung in Tel Aviv.