Warum der Ukraine-Krieg in absehbarer Zeit nicht enden wird
Eine Lösung des Ukraine-Konfliktes ist nicht absehbar. Das liegt auch an Interessen außerhalb des Kriegsgebiets. Das sind die Perspektiven.
Der preußische Offizier Helmuth von Moltke äußerte in Anlehnung an den Kriegsphilosophen und ebenfalls preußischen Offizier Carl von Clausewitz:
Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.
Clausewitz hatte es rund ein Jahrhundert vor Moltke wie folgt formuliert:
So stimmt sich im Kriege durch den Einfluß unzähliger kleiner Umstände, die auf dem Papier nie gehörig in Betrachtung kommen können, alles herab, und man bleibt weit hinter dem Ziel.
Kurzum: Nach dem ersten Schuss läuft alles anders als geplant. Diese Erfahrung musste auch die russische Armee wenige Wochen nach ihrem Angriff auf die Ukraine machen. Weder sind ukrainische Truppenteile übergelaufen, noch wurde die Ukraine in einem "Blitzkrieg" unterworfen.
Die Weisheiten des von Clausewitz und des von Moltke könnten durch ein weiteres Diktum ergänzt werden: "Man beginnt schneller einen Krieg, als man ihn wieder zu beenden vermag."
Und an dieser Stelle stehen wir nun im Ukraine-Krieg: Seit Monaten bewegt sich die riesige Front zwischen der ukrainischen Armee und den russischen Invasoren nur unwesentlich.
Fakt ist, dass dieser Krieg nicht so schnell beendet werden wird, wie es wünschenswert, wichtig und richtig wäre, um weiteres Leid und Zerstörung zu verhindern. Was sind also sie strategischen Hintergründe für die nicht anzunehmende baldige Beendigung des Krieges?
Es geht um die weltpolitischen Folgen einer umfassenden Niederlage der einen oder anderen Seite. Und diese Folgen sind der russischen Führung genauso bewusst wie Kiew und dem Westen.
Dazu ist es erforderlich, zu verstehen, dass es sich eben nicht um einen nur regionalen Krieg zwischen Russland als Angreifer und der Ukraine als Opfer handelt. Es ist auch und vor allem ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Globalen Westen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite stehen Russland und im wachsendem Maße China sowie – hinter vorgehaltener Hand – Länder des Globalen Südens.
Beide Konfliktseiten dieses Stellvertreterkrieges haben Sieg und Niederlage zu einer Schicksalsfrage ihres Seins erklärt. So die Aussage des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, dem zufolge "Russlands Sieg eine Niederlage der Nato" sein würde.
Daher ist das Ergebnis des Krieges von erheblicher Relevanz für die Ausgestaltung der künftigen internationalen Ordnung. Im Folgenden sollen die negativen Konsequenzen für Russland einerseits und den Globalen Westen andererseits skizziert werden.
Niederlage Russlands
Zunächst würde deutlich, Russland wäre nicht einmal eine "Regionalmacht" wäre, wie der ehemalige US-Präsident Barack Obamas einmal sagte. Denn Russland erwiese sich als unfähig, einen Staat an seinen eigenen Grenzen militärisch zu besiegen. Mit diesem Image als nicht einmal vollwertige Regionalmacht würde die russische Einflusssphäre im postsowjetischen Raum dahinschmelzen.
Selbst innerhalb Russlands könnten die latenten Separatismustendenzen wieder an Auftrieb gewinnen – Stichwort: Tschetschenien. Mit einem erneuten Aufbrechen eines Bürgerkrieges in Tschetschenien wäre ein separatistischer Dominoeffekt denkbar.
Und tatsächlich wird im Westen über die Zerschlagung der Russischen Föderation spekuliert. Die Erklärung des US-amerikanischen Verteidigungsministers Lloyd Austin – "Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu etwas wie diesem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist" –, bietet zumindest Interpretationsspielraum.
Diese Aussage muss nicht als intendierte Zerschlagung Russlands interpretiert werden, man kann einen Willen zu diesem Ziel aber auch nicht ausschließen. Zumindest könnte die staatliche Desintegration der Russischen Föderation eine angenehme Nebenwirkung für westlichen Strategen sein. Hinweise auf solche Debatten gibt es tatsächlich in den USA. Dort ist dann die Rede von der "Dekolonisierung Russlands".
So veröffentlichte das US-amerikanische Magazin The Atlantic am 27. Mai 2022 einen Beitrag mit dem Titel "Decolonize Russia". Darin wird von "kolonialen Besitztümern" des Kremls gesprochen und namentlich Tschetschenien, Tartastan und sogar Sibirien und die Arktis erwähnt.
Der Autor Casey Michel fordert, der Westen müsse das 1991 begonnene Projekt – gemeint ist die Auflösung der Sowjetunion – zu Ende führen. Weiter: Der Kreml müsse sein Imperium verlieren, um das Risiko weiterer Kriege zu vermeiden, womit gedanklich an Austins Forderung der Schwächung Russlands angeknüpft wird.
Dass diese Idee in Washington diskutiert wird, beweist ein Online-Briefing unter dem Titel: "Decolonizing Russia – A Moral and Strategic Imperative", veranstaltet am 23. Juni 2022 von der "Commission on Security and Cooperation in Europe".
Bei diesem Gremium handelt es sich um eine Regierungskommission, deren Mitglieder nahezu vollständig aus den beiden US-Kongresskammern entsandt und von der US-Regierung bestimmt werden.
Die Kommission debattierte ernsthaft die Zerlegung Russlands. Dass diese Diskussion Moskau nicht verborgen bleibt, versteht sich von selbst. So verkündete Russland jüngst eine aktualisierte außenpolitische Strategie, in der der Westen als "existenzielle Bedrohung" für Russland qualifiziert wird.
Ob die Zerschlagung Russlands tatsächlich realistisch wäre, sei dahingestellt. Was aber auf jeden Fall realistisch wäre: Eine Niederlage Russlands würde einen Prozess beschleunigen, der für Russland ein zentrales Motiv für den Waffengang gegen die Ukraine darstellt.
Dieser Prozess wird erstens durch die fortgesetzte Nato-Erweiterung geprägt – auch weiter in den postsowjetischen Raum hinein.
Und zweitens, würde die Ukraine zu einem hochgerüsteten antirussischem Bollwerk ausgebaut, dass von dem Image profitierten würde, Russland besiegt zu haben. Bereits jetzt hat sich die Nato mit der Aufnahme Finnlands um weitere 1.300 Kilometer an die russischen Grenzen erweitert.
Niederlage des Westens
Die Niederlage des Westens hätte Auswirkungen auf das Image der USA als Supermacht, der Nato als größte und mächtigste Militärallianz der Menschheitsgeschichte, der EU als europäisches Integrationsprojekt einschließlich der Ambition, unter US-Führung ein "Global Player Jr." zu werden.
USA
Der relative Machtverlust der USA im globalen System würde beschleunigt. Der Einfluss der USA auf historische Verbündete wie Saudi-Arabien nimmt bereits ab. Saudi-Arabien scheint sich auf eine Verhandlungsinitiative Chinas hin mit dem Iran auszusöhnen. Syrien und das Nato-Mitglied Türkei nähern sich unter russischer Vermittlung wieder an.
In beiden Fällen spielen die USA nicht nur keine Rolle, sondern die Vermittlungen widerstreben sogar den geopolitischen Interessen Washingtons. Die De-Dollarisierung, also die verminderte Nutzung des US-Dollars für den internationalen Handel, nimmt an Fahrt auf.
Das Zahlungssystem Swift erhält perspektivisch Konkurrenz, so dass die nichtwestliche Welt künftig sich dem Sanktionsdruck der USA auch in diesem Bereich immer zu entziehen vermögen wird.
Mit diesen Maßnahmen schwinden die Einflussmöglichkeiten und gleichsam die Einnahmen der USA, womit sich die Frage stellen wird, ob die USA ihre bisherigen Militärausgaben (858 Milliarden US-Dollar im laufenden Haushaltsjahr 2023) weiterhin stemmen werden können. Das muss Washington aber, weil maßgeblich dadurch seine militärische Macht bestätigt wird.
Nato
Der US-amerikanische Machtverlust wirkte sich unmittelbar auf die Kohärenz der Nato aus. Es setzten sich zentrifugale Kräfte frei, da die Niederlage trotz aller Waffenlieferungen und verdeckter operativer Unterstützung eine nie dagewesene Legitimationskrise erzeugte:
Wenn 31 Mitgliedsstaaten mit einem Militärbudget von über 1,175 Billionen US-Dollar (Stand 2021), davon alleine die USA 801 Milliarden US-Dollar (Stand 2021), und einem Gesamt BIP von nahezu 40 Billionen US-Dollar (Stand 2021) im Vergleich zu Russland mit einem Militärbudget von 66 Milliarden US-Dollar (Stand 2021) und einem BIP mit vergleichbaren mageren 1,8 Billionen US-Dollar (Stand 2021) eine Niederlage einfahren würden, könne man schwerlich zur Tagesordnung übergehen.
Europa
Die Europäische Union, die sich zunehmend an den USA ausrichtet und sich deren sicherheits- und energiepolitischen Vorgaben bereitwillig fügt, müsste sich angesichts einer westlichen Niederlage im Sinne des Aspekts einer echten europäischen Souveränität wohl neu erfinden, will es nicht in die absolute Bedeutungslosigkeit stürzen.
Denn Europa ist weder unter russischer noch unter US-amerikanischer "Führung" für uns Europäer wünschenswert – unsere Interessen sind bei seriöser Betrachtung weder mit der einen, noch mit der anderen Großmacht deckungsgleich.
Vielleicht würden im Falle einer Niederlage die Vorstellungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron von einem selbstständigeren Europa dann doch auch konstruktive Debatten in den europäischen Hauptstädten entfalten, statt sie durch gesinnungsethische Reflexe als quasi Hochverrat zu brandmarken.
Fazit
Die Zeitenwende von der uni- hin zu einer multipolaren Weltordnung wird durch eine kriegerische Unordnung begleitet. Der russische Einmarsch in die Ukraine und der damit einhergehende Stellvertreterkrieg sind zwar nicht zwangsläufig, jedoch erwartbare Symptome dieses Umbruchs. Zugleich manifestiert und beschleunigt der Krieg diesen Wandel.
Die Entschlossenheit beider Seiten glicht zwei aufeinander zurasenden Zügen, bei denen die Bremsen vorsätzlich demontiert worden sind, um der Gegenseite die eigene Entschlossenheit zu demonstrieren.
Und diese Entschlossenheit – unterstrichen durch die jeweiligen formulierten Schicksalsfragen seitens Russlands und des Globalen Westens – sind der Grund dafür, dass ein schnelles Ende des Krieges nicht zu erwarten ist.
Es sei denn, die USA zögen den machtpolitischen Showdown mit China zeitlich vor, was eine Konzentrationsverlagerung aller ihrer Potenziale in diesen Raum erforderlich machen würde, mithin die Schicksalsfrage über die künftige Weltordnung geografisch verlagert werden würde.
Dr. Alexander S. Neu, Jahrgang 1969, ist promovierter Politikwissenschaftler. Praktische politische Erfahrungen sammelte er als Mitarbeiter der OSZE im ehemaligen Jugoslawien. Von 2013 bis 2021 Mitglied der Bundestagsfraktion der Linken und deren Obmann im Verteidigungsausschuss sowie stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Zuvor war er acht Jahre Referent für Sicherheitspolitik der Fraktion.
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