Warum die Amerikaner sich bei den Wahlen verzählen
Neben einem Wahlverfahren aus der Zeit des Wilden Westens wählen 50 Prozent der Amerikaner mit einst fortschrittlichen, aber teilweise fehleranfälligen Methoden
Es hatte geklappt. Am Samstag Abend konnte Gottschalk bei der Saalwette von Wetten Dass vorführen, wie schwierig es den Amerikanern fällt, korrekt Stimmen, in diesem Fall: alle Sitze in den Reihen zu zählen. Die drei amerikanischen Studenten kamen zu jeweils verschiedenen Ergebnissen, keines war richtig. Just dieses Zähldrama spielte und spielt sich auch tatsächlich bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen ab, bei denen jede Nachzählung zu neuen Ergebnissen führt. Normalerweise kein Problem, aber wenn Demokratie heißt, dass einige Hundert oder gar einige Dutzend Stimmen den Ausschlag geben können, dann wäre Exaktheit wichtig.
Seltsam ist, dass wahrscheinlich in der technisch fortgeschrittensten Informationsgesellschaft ein solches Zahlenchaos auftritt. Doch auch wenn vieles in den USA computerisiert ist, so jedenfalls nicht die Wahlverfahren, die bestenfalls noch aus dem Ende des letzten Jahrhunderts stammen, lässt man einmal das antiquierte und für das Internetzeitalter geradezu groteske Verfahren außer Acht, dass in den einzelnen Bundesstaaten nicht direkt gewählt wird, sondern erst einmal 538 Wahlmänner und -frauen, die dann wiederum den Präsidenten wählen.
Auch hier spiegelt sich eine Situation, die noch einer langsamen Welt mit großen Entfernungen entsprach, in der es keine Gleichzeitigkeit durch Telekommunikation gab. Das aus dem Jahr 1787 stammende Wahlgesetz sieht vor, dass die von den Bürgern lokal gewählten Wahlmänner oder -frauen nach der öffentlichen Wahl in jedem Bundesstaat zusammen kommen und dort den Präsidenten nach dem Willen des Wählers bestimmen. Man entschied sich gegen eine direkte Wahl, weil die Kandidaten nicht in allen Bundesstaaten bekannt sein würden, dort also nur die lokalen Politiker gewählt und sich dann auch die bevölkerungsreichsten Staaten am ehesten durchsetzen würden. Daher sollte die Bevölkerung die in ihrem Wahlkreis geachteten und bekannten Persönlichkeiten wählen, die ursprünglich jenseits aller Parteizugehörigkeit dann wiederum nach bestem Wissen und Gewissen den Präsidenten wählen sollten. Das Wählen in jedem Bundesstaat sollte Bestechung und andere Machenschaften verhindern, überdies musste jeder zwei Stimmen abgeben, eine für einen Kandidaten, der nicht aus demselben Bundesstaat stammte. Wie die Wahl der Wahlmänner und -frauen organisiert wurde, blieb den Bundesstaaten überlassen.
Übrigens kam es 1800 bereits bei Thomas Jefferson und Aaron Burr zu einem ähnlichen Problem wie gegenwärtig. Beide erhielten dieselbe Anzahl von Stimmen, das Parlament entschied dann, wie vorgesehen, und zwar zugunsten von Jefferson - nach 36 Wahlversuchen und vielen Händeleien. Danach kam es zu einigen Reformen, vor allem aber begann die Bedeutung der Parteien zu steigen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Prinzip "The winner takes it all" eingeführt. Noch aber stellte jede Partei Listen ihrer Wahlmänner und- frauen auf, die einzeln gewählt werden konnten, wobei die Wähler durchaus auch solche verschiedener Parteien angeben konnten. Heute wählt man nur noch die Liste der "Electors for ...".
Seit 1845 war dafür der Dienstag nach dem ersten Montag im November festgelegt worden. Im November nämlich war die landwirtschaftliche Arbeit weitgehend abgeschlossen, aber das Wetter noch so mild, dass längere Fahrten über ungepflasterte Wege möglich waren. Da viele größere Entfernungen zum Wahlort zurücklegen mussten und der Sonntag als Feiertag nicht als Reisetag wegen der religiösen Pflichten in Frage kam, entschied man sich für den Dienstag, an dem die Stimmen abgegeben und dadurch die Wahlmänner und -frauen bestimmt wurden.
Dieses Ergebnis wird dann an Senat, Regierung und Justiz in mehrfacher Ausführung weitergeleitet, so dass in der Übermittlung kein Wahlbetrug geschehen kann. In einer gemeinsamen Sitzung von Kongress und Senat in Washington werden dann die gesammelten Ergebnisse vorgetragen. Darauf folgt nach einigen Tagen die Amtsübernahme. Die Wahl der Wahlmänner und -frauen fand am 7. November statt, offiziell liegt das Endergebnis aber erst am 6. Januar 2001 vor. Diese Zeitspannen waren 1787 notwendig, um die weiten Reisen zu organisieren, aber sie sind im Jahr 2000 schlicht absurd.
Doch diese Umständlichkeiten einer langsamen Zeit vor den elektronischen Medien sind nicht verantwortlich für das Auszählchaos, auch wenn die Gründe dafür ebenso weit zurückreichen. Das geschah ja nicht nur in Florida, sondern auch in New Mexico, Chicago, Wisconsin und Iowa, überall dort also, wo der Wahlausgang knapp war. Nun sind wir zwar gewohnt, Stimmen auf Wahlzetteln auf Papier abzugeben, in den USA wählt aber immerhin nahezu 50 Prozent der Menschen fortschrittlicher, nämlich mit Techniken, die Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden: mit Lochkarten und mechanischen Hebelmaschinen. Stimmen durch Ankreuzen mit einem Stift auf Papier abzugeben, wurde in den USA erst 1889 eingeführt, hat sich aber nicht durchgesetzt, denn 1996 wurde dieses Verfahren bei gerade einmal 1,9 Prozent aller Wähler benutzt. Insgesamt gibt es in den USA fünf unterschiedliche Wahlverfahren, also auch fünf unterschiedliche Zählverfahren und fünf unterschiedliche Möglichkeiten, zu Irrtümern zu gelangen.
Aber auch die mechanischen Verfahren sind nicht überall dieselben. Bei den Lochkarten, die 1996 von 37,3 Prozent aller Wähler benutzt wurden, müssen neben den gewählten Kandidaten Löcher gestanzt werden. Das hat bekanntlich in Florida zu Unstimmigkeiten geführt, da die Namen der Kandidaten auf zwei nebeneinander liegenden Spalten verteilt waren. Gore und Liebermann kamen als zweite nach Bush und Cheney, aber auf dem Mittelstreifen, in den das Loch gestanzt werden musste, kamen sie erst als dritte nach Buchanan, der auf der rechten Spalte war. Daher soll, weil manche Wähler nicht durchblickten, Buchanan manche Stimmen für Gore/Liebermann versehentlich erhalten haben, während andere ihren Fehler bemerkten, noch einmal stanzten und so ungültige Wahlzettel ablieferten. Aber das war nicht die einzige Möglichkeit des Irrtums.
Eigentlich sind die Lochzettel ja fortschrittlich. Als Vorläufer des Computers konnten sie bereits automatisch gelesen werden. Da aber können Fehler auftreten, wenn das Loch nicht ganz durchgestanzt ist und der Papierkreis noch am Blatt hängt. Daher ergibt eine nachträgliche Zählung per Hand oft andere Ergebnisse als eine maschinelle Zählung. Die Möglichkeit für Fehler aber seien, so der ehemalige Außenminister James Baker, der als Anwalt der Bush-Kampagne auftritt, beim Zählen per Hand größer: "Maschinen sind weder Republikaner noch Demokraten, und deshalb können sie weder bewusst noch unbewusst in Vorurteilen befangen sein." Allerdings will die Bush-Kampagne dort, wo sie sich Vorteile verspricht, eben diese "objektivere" Zählung doch per Hand nachzählen lassen.
Wirklich phantastisch aber sind die mechanischen Hebelmaschinen (Mechanical Lever Machines), die von der Federal Election Commission folgendermaßen beschrieben werden: "Bei mechanischen Hebelwahlmaschinen ist der Name jedes Kandidaten oder jede Wahlmöglichkeit einem Hebel in einer rechteckigen Reihe von Hebeln vor der Maschine zugeordnet. Eine Reihe von ausgedruckten Streifen, die der Wähler sehen kann, identifiziert den Hebel, der für einen Kandidaten oder ein Wahltheme steht. Die Hebel befinden sich vor der Wahl in horizontaler Stellung. Der Wähler aktiviert die Maschine mit einem Hebel, die auch einen Vorhang vor der Wahlkabine schließt. Der Wähler drückt bestimmte Hebel nieder, um seine Wahl anzugeben. Wenn der Wähler die Kabine verlässt, indem er mit einem Griff den Vorhang öffnet, gehen die niedergedrückten Hebel in der Maschine wieder automatisch in ihre horizontale Ausgangslage zurück. Beim Zurückkehren in die Ausgangslage verursacht jeder Hebel, dass ein damit verbundenes Rad in der Maschine sich um ein Zehntel einer vollen Umdrehung weiterbewegt. Das Zählrad, das als die Einerposition der numerischen Zählung für den mit ihm verbundenen Hebel dient, treibt einen "Zehner-Zähler" um ein Zehntel seiner vollen Umdrehung weiter. Die "Zehner"-Zähler treibt auf nämliche Weise einen "Hunderter-Zähler" ..."
Erstmals kamen solche damals durchaus fortschrittlichen Rechenautomaten 1892 in New York zum Einsatz. Ab 1930 gab es sie in praktisch jeder Großstadt, und 1960 wurden die Hälfte aller Stimmen damit gezählt. 1996 durften diese Relikte des mechanischen Zeitalters immerhin noch 20,7 Prozent der registrierten Wähler in den USA benutzen. Hergestellt werden sie allerdings nicht mehr, daher werden sie allmählich durch computerbasierte "Marksense"-Systeme oder gleich durch elektronische Wahlsysteme ersetzt. Bei den "Marksense"-Systemen füllen die Wähler neben dem gewählten Kandidaten einen Kreis, ein Viereck oder einen unvollständigen Pfeil aus. Dann werden die so gekennzeichneten Stimmen von einem Computer gelesen, der jeweils das dunkelste Feld zählt. Solche optischen Scan-Verfahren wurden 1996 von 24,6 Prozent der registrierten Wähler benutzt.
Am Modernsten sind natürlich die elektronischen Wahlmaschinen: "direct recording electronic" (DER). Im Grunde sind sie eine elektronische Umsetzung ihrer mechanischen Vorfahren der automatischen Wahlkabinen. Es gibt keinen Wahlzettel mehr, sondern der Wähler sieht die Optionen vor sich auf der Maschine. Er kann seine Stimme über einen Touch-Screen, das Drücken von Knöpfen oder ähnliche Mechanismen abspeichern. Oft gibt es auch eine Tastatur, um etwa den Namen des Kandidaten zu schreiben, für den man stimmt. Gespeichert wird in unterschiedlichen Formaten. 1996 haben erst 7,7 Prozent der registrierten Wähler mit solchen zwar nicht gerade kompatiblen, aber doch wohl verlässlicheren Systemen gewählt. Allerdings scheint es in New Mexico einen Computerfehler gegeben zu haben, der zu fehlerhaften Ergebnissen führte. Online haben Militärangehörige aus drei Ländern, die im Ausland stationiert sind, gewählt, und 2000 Bürger Kaliforniens in einem Test. Aber Online-Wahlen werden, wenn es um das Geld geht, die Zukunft haben. Wahlkabinen mit Computersystemen, wie sie flächendeckend im kalifornischen Riverside County eingeführt wurden, kosteten pro Stück über 3000 Dollar. Macht für 4250 Touch-Screen-Systeme 14 Millionen Dollar.