Warum die Angst so gefährlich ist wie das Virus
Corona und die Demokratie
Das Coronavirus versetzt die ganze Welt in Angst. Hunderttausende sind erkrankt. Tausende Menschen sind gestorben. Nach allem, was man weiß, ist die Pandemie noch lange nicht zu Ende. Das Virus bedroht die Gesundheit und das Leben. Genauso schlimm ist aber die Angst vor dem Virus. Sie bedroht die Demokratie und den Rechtsstaat.
In atemberaubender Geschwindigkeit haben sich die europäischen Staaten von rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätzen verabschiedet. Muss die Pandemie um jeden Preis bekämpft werden? Auch um den Preis, dass am Ende Rechtsstaat und Demokratie in Trümmern liegen?
Menschenwürde und Triage
Nahezu alle grundlegenden Werte unserer Verfassung werden vom Coronavirus unter Stress gesetzt. Der mit Abstand wichtigste Wert der Verfassung ist die Menschenwürde. Art. 1 des Grundgesetzes bestimmt kurz und knapp und eindeutig: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Eine wichtige Konsequenz: Jeder Mensch ist gleich wichtig. Kein Menschenleben darf gegen ein anderes Menschenleben aufgerechnet werden. Selbstverständlich gilt das auch für ärztliches Handeln. Das Prinzip ist ein wichtiger Bestandteil der medizinischen Ethik. Corona ändert alles - auch das?
In Zeiten von Corona wird verstärkt über die sog. Triage diskutiert. Mit dieser Methode aus der Militärmedizin werden Kranke und Verletzte vorsortiert, bevor eine ärztliche Behandlung beginnt. Wer bekommt die medizinische Behandlung - und wer bekommt sie nicht. Das ist die Frage, die mit Hilfe der Triage entschieden wird. Sie wird angewandt, wenn die medizinischen Ressourcen nicht für alle reichen, die sie brauchen. Ihr klassischer Anwendungsfall ist deshalb der Krieg, aber auch Katastrophen oder schlimme Seuchen können ihre Anwendung erzwingen.
In Italien, Spanien und Frankreich ist sie bereits in manchen Notaufnahmen und Intensivstationen Praxis. Die Kriterien, nach denen sortiert wird, sind utilitaristisch und können ihren Ursprung aus der Militärmedizin nicht verleugnen. Wer am ehesten wieder gesund wird und noch die meisten Lebensjahre vor sich hat, wird vorrangig behandelt. Wer besonders schwer krank und schon alt ist, wird nicht mehr behandelt, wenn die medizinischen Ressourcen nicht ausreichen.
Diese Kriterien widersprechen dem Menschenwürdegebot fundamental. Dass Ärzte in Extremsituationen über Leben und Sterben entscheiden, ist unvermeidlich. An welchen Kriterien sich diese Entscheidung ausrichtet, kann aber politisch und ethisch entschieden werden. Es müssen nicht die klassischen Kriterien der Triage sein. Es könnten auch völlig andere sein, die mehr dem Geist des Grundgesetzes entsprechen. Warum akzeptieren wir in der Demokratie die militärisch geprägten utilitaristischen Kriterien dann ohne öffentliche Debatte?
Das Virus und der Datenschutz
Die Menschenwürde schützt auch die Privatsphäre. Dahinter steht eine grundlegende Erkenntnis: Kein Mensch kann ohne Privatsphäre existieren. Psychologische Studien zeigen immer wieder die Bedeutung der Privatsphäre für die seelische Gesundheit. Wer keinen wie auch immer gearteten Rückzugsraum hat, wird seelisch krank. Hier liegt der tiefere Sinn des Datenschutzrechts.
Deshalb ist es erschreckend, wie schnell lang erprobte und bewährte Datenschutzgrundsätze während der Corona-Epidemie über Bord geworfen werden. Das Robert-Koch-Institut bekommt Handydaten von der Telekom, um das Bewegungsverhalten der Bürgerinnen und Bürger zu überprüfen. Folgen sie dem Appell der Politiker, ihre Sozialkontakte deutlich einzuschränken?
Die Behörde darf das mit Hilfe der Daten nachprüfen. Eine staatliche Gesundheitsbehörde darf das Verhalten der Bürger kontrollieren? Proteste oder kritische Diskussionen in der Öffentlichkeit? Fast keine. Immer wieder wird in den Medien Südkorea als Musterbeispiel der Epidemiebekämpfung dargestellt. Das wichtigste Tool der Südkoreaner: Ein lückenloses Tracking der Bürgerinnen und Bürger über das Handy.
Das sind Methoden des Überwachungsstaats auf höchstem digitalem Niveau. Trotzdem gilt das - fast ohne Diskussion - als Vorbild. In der Bundesregierung wird gerade über den Einsatz einer ganz ähnlichen Corona-Tracking-App diskutiert. Alles ist gerechtfertigt, wenn es nur hilft, die Ausbreitung des Virus zu bekämpfen. Wirklich?
Ausgangssperre und Demokratie
Inzwischen gelten in allen Bundesländern begrenzte Ausgangssperren und weitgehende Kontaktverbote. Das ist völlig ungewohnt, äußerst unbequem, sozial sehr belastend und wirtschaftlich verheerend. Aus epidemiologischer und aus seuchenpolitischer Sicht scheinen diese Maßnahmen aber alternativlos zu sein. Sind sie das wirklich?
Andere Staaten haben andere Konzepte. Kaum ist eine Maßnahme umgesetzt, wird sofort eine weitere, noch schärfere gefordert. Man wartet gar nicht mehr ab, ob eine Maßnahme Wirkung zeigt. Ist das medizinisch beratene und epidemiologisch fundierte Seuchenpolitik? Oder geht es um symbolische Politik, die mit immer härterem Vorgehen Entschlusskraft demonstriert und Kontrolle simuliert?
Darüber wird (fast) nicht diskutiert. Und ein entscheidender Punkt wird immer wieder ignoriert. Ausgangssperren betreffen den innersten Kern der Demokratie. Zum Wesen der Demokratie gehört es, dass Bürgerinnen und Bürger sich treffen, diskutieren, Lösungen entwickeln und Entscheidungen treffen. Onlinediskussionen in Social Media sind kein Ersatz für Millionen Begegnungen und Gespräche in der Öffentlichkeit. Es ist erschreckend, wie die Demokratie-Relevanz von Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverboten in der politischen Diskussion ignoriert wird.
Das Virus und die Zivilisation
Keine Frage: Das Coronavirus ist eine ernsthafte Herausforderung für alle Staaten und die Welt insgesamt. Nach Corona ist die Welt eine andere, heißt es. Selbstverständlich steht zunächst die medizinische Dimension im Vordergrund. Wie kann man die Ausbreitung des Virus verlangsamen und möglichst viele Menschenleben retten? Das ist die entscheidende Frage.
Eine andere Frage ist allerdings genauso wichtig. Wie verhindern wir, dass im Kampf gegen Corona die grundlegenden Werte der Verfassung irreparabel beschädigt oder abgeschafft werden? Im Eifer des Gefechts ist diese Gefahr gerade sehr groß.
Unter dem dünnen Firnis der Zivilisation lauert die Barbarei. Die Verfassung und die Demokratie sind zivilisatorische Höchstleistungen. Sie sollten nicht aufs Spiel gesetzt werden. Auch dann nicht, wenn eine gefährliche Pandemie bekämpft werden muss.
Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler ist Jurist und Politikwissenschaftler an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.
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