Warum die Morgenröte des Genoms verblasst
Das Spektrum der Gene, vor kurzem noch als Höhepunkt der weltweiten Forschung gefeiert, verliert an Bedeutung gegen "small RNAs" und quirlige Zellaktivitäten
Der Herausgeber von "Science" diskutiert mit seinem Stab zum Ende des Jahres die Highlights der letzten zwölf Monate. In der biologischen Forschung ist die Entscheidung zu Gunsten der "small RNAs" gefallen. MicroRNAs und NanoRNAs kontrollieren die Genexpression, sei es, indem sie die Übertragung temporär aussetzen, unterdrücken, oder die Messenger RNAs blockieren. Ebenso unerwartet ist die Erkenntnis, dass small RNAs das Chromatin und sogar das Genom unmittelbar angehen. 100 und mehr "kleine RNA-Boten" sprechen für die bisher unbekannte Ebene in der Zellregulation und möglicherweise für Elemente, die überhaupt erst die Stabilität des Genoms ermöglichen.
Die Entscheidung von "Science" leitet zugleich den Paradigmenwechsel in der Genforschung ein. Immerhin sind im Jahr 2002 weitere wichtige Genome, nämlich für den Reis, die Stechmücke, die Malaria überträgt, und die Maus entschlüsselt worden. Erinnern wir uns: die Kommentare zur Enträtselung des menschlichen Genoms im Vorjahr (Februar 2001) ließen bereits Bitternis spüren, weil die Zahl der Gene deutlich geringer ist als bis dahin hochgerechnet. Die neuerlichen Aufklärungen bleiben ohne Jubel und ohne große Worte. Vielleicht auch deshalb, weil die Arbeit von Robotern erledigt wird und in ellenlange Listen ohne unmittelbare Konsequenzen ausufert. Darwin benötigt für seine Evolutionstheorie keine neue Genspektren mehr. Die Feststellung "Der Mäuseschwanz ist auch im menschlichen Genom enthalten," wird inzwischen sogar von interessierten Laien als natürlich hingenommen.
Trotz oder gerade wegen der Ähnlichkeiten in den Genomen bleibt die Frage aller Fragen unbeantwortet: "Was macht uns zu Menschen?" Das Genom, so scheint es heute, ist ähnlich einem fortgeschrittenem Rohbau. Die Dekoration und das Leben im fertigen Haus läuft nach besonderen Gesetzen ab. Deshalb ist die Vielfalt im Phänotyp des Menschen durch das Genom allein nicht zu erklären. In der medizinischen Forschung ist daher längst Unzufriedenheit aufgekommen. Die Genetiker können, bildlich gesprochen, eine Wand versetzen, nicht aber die dringlichen Probleme unserer Gesundheit lösen.
"Nicht das Genom, sondern das "Signal Transduction Environment" ist das eigentliche Lebenselement," warnen beständig Nicht-Genetiker, "weil es die lokalen Besonderheiten widerspiegelt." Die Wissenschaftler haben die früheren Vorstellungen über den Verlauf enzymatischer Reaktionen durch ein Netzwerk komplizierter Wechselwirkungen abgelöst, weil sie erkennen, daß Stoffwechselprozesse nicht nur kaskadenförmig vorwärts drängen, sondern nach Entscheidungsregeln ablaufen. T. Ideker, T. Galitski und L. Hood (A new approach to decoding life: Systems biology. Annu. Rev. Genomics Hum. Genet. 2, 343-372 (2001 ) schlagen dafür die Bezeichnung "Systems Biology" vor. Zuvor schon wurden Hormone und Neurotransmitter als Beispiele für die körpereigene Autonomie und nicht als gehorsame Diener des Genoms angesehen, weil die Wirkung durch äußere Einflüsse oder "endogen", durch Mangel oder Überschuß, verändert werden kann.
Mit den kleinen RNAs ist möglicherweise der "missing link" gefunden. Noch vor zehn Jahren waren die kleinen RNA Moleküle gänzlich unbekannt. "Für viele Menschen erscheinen small RNAs immer noch kompliziert und esoterisch. Ich wage vorauszusagen, dass sie die Türen öffnen für durchgreifende Entwicklungen in der Medizin, der Immunologie, der Entwicklung von Pflanzen, und auf anderen Gebieten," erklärt James Carrington, Direktor des Center for Gene Research and Biotechnology an der Oregon State Universität, dessen Forschung in diesem Jahr allein von der US National Science Foundation mit knapp 2 Millionen US Dollar gefördert wird.
Die meisten Molekularbiologen konzentrierten sich auf Protein kodierende Gene in der Annahme, dass die RNA ausführt, was von der DNA in Auftrag gegeben wird. 1993 wurde die erste small RNA entdeckt. Untersuchungen der letzten zwei Jahre lassen keinen Zweifel mehr, daß small RNAs in jeder Tier- und Pflanzenzelle Schlüsselfunktionen kontrollieren. Dazu gehören die Regulation der Genexpression ebenso wie die Umwandlung von Zellen in spezifische Organzellen (u.a. Lunge, Leber, Gehirn). Small RNAs aktivieren oder deaktivieren ganze Chromosomen oder regionale Abschnitte. An Hefezell-Mutanten wird nachgewiesen, daß ohne small RNAs die Zellteilung versagt oder falsch abläuft, weil kein Heterochromatin gebildet wird. Damit haben die kleinen Helfer sicherlich Einfluß auf angeborene Defekte ebenso wie auf die Entwicklung von Stammzellen oder Krebszellen. "Small RNAs entstehen durch die Transkription kleiner Gene in Regionen des Genoms, die früher als vakante oder unnütze DNA interpretiert wurden. Anders als Messenger RNAs werden sie nicht verändert, um Proteine zu bilden. Ihre Rolle beruht wirklich nur darauf, die Genexpression oder die Chromosomenaktivität zu kontrollieren und zu regeln," so nochmals James Carrington.
"Das Bild von der genetischen und epigenetischen Kontrolle muß neu überdacht werden," schreibt Donald Kennedy, der Herausgeber von "Science". Nicht nur das. Die Stammzellenforschung und das Klonen werden von der bisher unangefochtenen Dominanz der DNA geleitet. Mit den kleinen RNAs als Regulatoren können manche Misserfolge, vielleicht sogar der vorzeitige Rheumatismus von Schaf Dolly, erklärt werden. Damit endet für den verantwortungsbewussten Forscher zugleich ein Stück Freiheit: wer kann jetzt noch Versuche riskieren, solange unbekannt ist, wo und wie Hundert und mehr MicroRNAs und NanoRNAs wirksam werden?