Warum es gefährlich ist, ukrainische Kriegsopfer herunterzuspielen
Im Westen ist fast nichts über die ukrainischen Opfer zu hören. Das hat fatale Effekte. Unterstützen die US-Amerikaner die brutale Zermürbung, weil die Berichterstattung verzerrt ist?
"Die Ukraine wird gewinnen." Eine Abwandlung dieses Satzes ist zum inoffiziellen Mantra der US-Politik gegenüber dem Ukraine-Krieg geworden, das in zahllosen Kolumnen, Interviews und Reden geäußert wird. In ihnen wird zugleich ein unbefristetes Engagement der USA für die ukrainischen Kriegsanstrengungen versprochen und den politischen Entscheidungsträgern vorgeworfen wird, dass sie keine größeren Mengen und noch mehr Eskalation erzeugende Waffentypen bereitstellen.
Der damalige britische Premierminister Boris Johnson hat sich Berichten zufolge zu Beginn des Krieges gegen Friedensgespräche auch auf der Grundlage ausgesprochen, dass die Ukraine mit ausreichender Unterstützung Russland militärisch besiegen könne, weil das Land schwächer erschien, als viele zuvor dachten.
Diese Haltung wurde durch die unbestätigten Informationen, die an die Öffentlichkeit gelangten, über die erheblichen Schäden, die dem russischen Militär zugefügt wurden, noch verstärkt.
Abgesehen von dem verheerenden Verlust an Ausrüstung – nach einer Schätzung die Hälfte der einsatzfähigen Panzer und bis zu acht Prozent der aktiven taktischen Kampfflugzeuge – scheint sich der Konsens unter westlichen Stellen hinsichtlich der Zahl der russischen Opfer auf schwindelerregende 200.000 zu belaufen. Das wären für Russland mehr Tote als in allen seinen anderen Konflikten nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengenommen.
Doch die zentrale Behauptung eines fast sicheren ukrainischen Militärsiegs über dezimierte russische Streitkräfte wird in Ermangelung eines wichtigen Maßstabs für die militärische Lage aufgestellt: nachprüfbare Verluste auf dem Schlachtfeld.
Von Beginn des Krieges bis heute hat die Ukraine, ebenso wie Russland, ihre Verluste als Staatsgeheimnis behandelt, das so streng gehütet wird, dass nicht einmal die US-Geheimdienste und -beamten, die die ukrainische Führung in Fragen der Militärstrategie beraten und bei der Kriegsplanung helfen, genau wissen, wie viele Ukrainer im vergangenen Jahr getötet und verwundet wurden.
Und das, obwohl, wie ein ukrainischer Offizier dem Wall Street Journal kürzlich in einem Artikel über den Zermürbungskampf um die Stadt Bachmut sagte, "den Krieg nicht die Partei gewinnt, die Territorium gewinnt, sondern die Partei, die die bewaffneten Kräfte des Gegners vernichtet".
Wir verfügen im besten Fall über unterschiedliche Schätzungen. Im November sagte Mark Milley, Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, dass in der Ukraine "wahrscheinlich" mehr als 100.000 Soldaten getötet oder verwundet wurden und 40.000 Zivilisten starben, was sich mit dem öffentlichen Eingeständnis der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in gleichen Monat deckt. Als Folge des allgemeinen Aufschreis sah sie von der Leyen jedoch gezwungen, die Zahl als angeblich ungenau zurückzunehmen.
Im Januar dieses Jahres schätzte der Chef der norwegischen Streitkräfte, Eirik Kristoffersen, die Opferzahl des ukrainischen Militärs auf über 100.000 und die der getöteten Zivilisten auf etwa 30.000 – allerdings betonte auch er die Unsicherheit dieser Zahlen.
Wie auch immer die genauen Zahlen lauten mögen, die Ukraine hat mit Sicherheit sehr gelitten. Im vergangenen Juni behauptete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, das Land verliere "60 bis 100 gefallene Soldaten pro Tag und erleide etwa 500 Verwundete".
Als die Schlacht um Bachmut zum Brennpunkt des Krieges wurde, enthüllte ein Bericht des Spiegels im Januar, dass der deutsche Geheimdienst "alarmiert" sei über die Zahl der ukrainischen Todesopfer, die die Verteidigung der Stadt nach sich ziehe, und kommt zu dem Schluss, dass die ukrainischen Streitkräfte "jeden Tag eine dreistellige Zahl von Soldaten verlieren".
Ein Amerikaner, der an der Seite der ukrainischen Armee in der Stadt kämpft, sagte kürzlich gegenüber ABC, dass "die Lebenserwartung an der Frontlinie etwa vier Stunden beträgt". Mehr als ein Dutzend der dort kämpfenden Soldaten sagten dem Kyiv Independent, sie hätten das Gefühl, dass sie wie ihre russischen Kollegen kaum ausgebildet und mit zu wenig Mitteln in den Tod geschickt würden. Die Zeitung schlussfolgerte, dass die ukrainischen Verluste dort "hoch zu sein scheinen".
Die verzerrte Berichterstattung unterminiert Diplomatie
Die jüngsten Entwicklungen bei der ukrainischen Mobilisierung offenbaren ein ähnlich düsteres Bild. Seit Beginn des Krieges gab es Berichte über ukrainische Männer, die bei der Flucht aus dem Land ertappt wurden, um der Einberufung zu entgehen.
Währenddessen wächst der öffentliche Protest gegen die immer aggressiveren militärischen Rekrutierer. Mehr als 26.000 Ukrainer haben im vergangenen Jahr eine Petition unterzeichnet, in der ein Ende der Praxis gefordert wird, an Kontrollpunkten, Tankstellen und auf der Straße militärische Einberufungen durchzuführen.
Weitere 25.000 Menschen unterzeichneten eine Petition gegen ein im Januar verabschiedetes Gesetz, das die Strafen für Desertion und Ungehorsam verschärft – ein weiteres Zeichen für die Unzufriedenheit der Soldaten in den eigenen Reihen. In einem aufsehenerregenden Fall erhielt ein Mann, der ohne Hände geboren wurde, einen Einberufungsbescheid und erfuhr bei seiner Ankunft auf dem Meldeamt, dass er trotzdem diensttauglich sei.
Nichts von alledem deutet auf einen endlosen Nachschub an willigen Kämpfern hin, die die meisten Presseberichte der US-Öffentlichkeit zu suggerieren versuchen.
Das soll nicht heißen, dass die Lage auf der anderen Seite rosig ist. Berichten zufolge hat Russland bei seiner Kriegsführung mit den gleichen Problemen zu kämpfen – von massiven Verlusten auf dem Schlachtfeld und der Vermeidung von Einberufungen bis hin zum Mangel an Artillerie und Anzeichen von Verzweiflung bei der Anwerbung, sodass nun Gefängnisinsassen gnadenlos durch den Bachmut-Fleischwolf gedreht werden.
Aber mit einer Bevölkerung, die mehr als dreimal so groß ist wie die geschätzten 41 Millionen Einwohner der Vorkriegsukraine, kann Russland solche militärischen Verluste besser verkraften, auch wenn Milley sie zu Recht als "Katastrophe" bezeichnet. Hinzu kommt, dass die Ukraine seit der Invasion etwa ein Fünftel seiner Einwohner als Flüchtlinge an andere europäische Länder verloren hat.
Die demografische Realität ist wahrscheinlich noch düsterer, denn in dieser Vorkriegszahl sind die rund zwei Millionen Einwohner der illegal annektierten Krim und weitere Millionen im Donbass enthalten, während die Bevölkerung der Ukraine nach einigen Schätzungen seit der letzten Volkszählung im Jahr 2001 um 40 Prozent auf rund 30 Millionen oder weniger geschrumpft ist.
Mit anderen Worten: So katastrophal die Verluste für Russland sind, umso schlimmer sind sie für die Ukraine, deren Bevölkerung, die ohnehin schon kleiner ist als die Russlands, seit dem Krieg erheblich geschrumpft ist, und in hohem Maße weiter darauf angewiesen ist, einfache Bürger zum Kämpfen zu verpflichten – eine Tatsache, die die zunehmend aggressive Einberufungspraxis des Militärs erklären könnte.
Die mediale Berichterstattung stellt jedoch stets die russischen Verluste in den Vordergrund, während die vergleichbaren und wohl verheerenderen ukrainischen Verluste weitgehend heruntergespielt werden.
Eine Umfrage vom Oktober verweist auf die Implikationen einer derartigen Berichterstattung. Sie ergab, dass jene US-Amerikaner, die von einem Sieg der Ukraine überzeugt sind, eher die Fortsetzung der Militärhilfe und sogar die Entsendung von US-Truppen befürworteten – und umgekehrt.
Das fehlende öffentliche Bewusstsein für die ukrainischen Opferzahlen wirft eine Reihe von heiklen Fragen auf: Sind die häufigen Vorhersagen eines sicheren ukrainischen militärischen Sieges eher Phantasie als Realität? Wird die amerikanische Öffentlichkeit dazu verleitet, ein eskalierendes militärisches Engagement unter falschen Vorwänden zu unterstützen?
Hat sich die ukrainische Führung infolgedessen dazu verleiten lassen, unrealistische militärische Ziele zu setzen, die dazu beitragen, dass Tod und Zerstörung für die ukrainische Bevölkerung noch länger andauern? Und hat die Ausblendung ukrainischer Opfer dazu beigetragen, in den Vereinigten Staaten ein politisches Klima zu schaffen, das diplomatischen Lösungen entgegensteht?
Wir werden es vielleicht bald herausfinden. Nach Angaben der Washington Post zweifeln selbst ukrainische Offizielle inzwischen an der Fähigkeit ihrer Streitkräfte, nach den erlittenen Verlusten eine erfolgreiche Gegenoffensive zu starten, da viele der erfahrensten Kämpfer dauerhaft vom Schlachtfeld verschwunden sind.
In einem Krieg, in dem Informationen zu einer Waffe geworden sind, können solche Aussagen nicht einfach für bare Münze genommen werden. Aber es gibt viele Anzeichen dafür, dass sie nicht weit von der Realität entfernt sind.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.