Warum immer mehr Menschen als rechtsextrem gelten und was wirklich dahinter steckt

Brandenburg, Sachsen, Thüringen. Sind Reaktionen überzogen? Bild: DesignRage, Shutterstock.com

Hunderttausende sollen auf einmal radikale Rechte sein? Wie politische Vorurteile das Bild verzerren. Und welche Rolle mediale und politische Akteure spielen.

Ich möchte zwei Hypothesen diskutieren:

Erste Hypothese: Es hat eine falsche Bedeutungserweiterung stattgefunden. Wer sich heute als "rechts" versteht, gilt den Linken als nahezu oder faktisch "rechtsextrem(istisch)".

Wer sich hingegen heute als "links" versteht, der ist im herrschenden Diskurs ganz weit weg von "linksextrem(istisch)". Mit einem "Linksextremen" assoziieren wir im Vorstellungsbild des Begriffs immer noch einen Gewalttäter, einen politisch motivierten Zerstörer, einen Randalierer, einen Hausbesetzer, oft auch einen Terroristen.

"Rechtsextrem(istisch)", das sind hingegen plötzlich mehr als 30 Prozent der Wähler in Thüringen und womöglich auch bald 30 Prozent oder mehr der Wähler in ganz Österreich, also Millionen von Menschen. Aber diese sind fast nie Gewalttäter oder Terroristen.

Mich interessiert, wie es zu dieser Begriffsverschiebung kam: Warum ist der Begriff "linksextrem(istisch)" weiterhin chaotisch-randalierenden Gewalttätern vorbehalten, während "rechtsextrem(istisch)" auch hunderttausende ‚normale‘ Menschen sein sollen?

Zweite Hypothese: Der Begriff "rechtsextrem(istisch)" wird oft als Kampfvokabel der Linken eingesetzt, um eine Bewegung pauschal zu denunzieren.

Die unsinnigerweise als "rechtsextrem(istisch)" bezeichneten Menschen haben das derzeitige Establishment satt, die immerwährenden Lügen (wie die nicht eingehaltenen Wahlversprechen), die immer wieder neu aufgedeckte Korruption, das fortwährend neu enthüllte Blendwerk (wie das Sich-Schmücken mit plagiierten Doktorarbeiten und plagiierten Büchern).

Diese Bewegung vermutet schlichtweg, dass die falschen Leute an den Schalthebeln sitzen und dass diese folglich eine falsche Politik machen – sei es wegen mangelnder Intellektualität und wegen Inkompetenz, wegen Zynismus, wegen einer déformation professionelle oder der Bereitschaft, sich von anderen steuern zu lassen.

Ich denke daher, dass sehr viele der AfD- und FPÖ-Wähler solche Protestwähler sind, jedenfalls denke ich, dass sie ganz weit weg von einer Verherrlichung oder auch nur Relativierung der Geschehnisse der Nazizeit sind. Und politischen Terrorismus lehnen sie in jeder Form radikal ab.

Ad 1, zur falschen Bedeutungserweiterung: Gebetsmühlenhaft habe ich in den vergangenen Tagen in bundesdeutschen und österreichischen Massenmedien gelesen, die AfD Thüringen sei "gesichert rechtsextrem" oder "erwiesen rechtsextrem". Denn das habe der Thüringer Verfassungsschutz festgestellt.

Eines der Hauptkennzeichen von "Rechtsextremismus" sei der Wille, die Demokratie abzuschaffen und unsere demokratische und liberale Gesellschaft durch eine autoritär geführte Gesellschaft zu ersetzen, also letztlich nichts anderes als unter Hitler (oder später in der DDR) eine Diktatur einzuführen – das steht schon auf Wikipedia.

Bitte korrigiert mich, aber ich habe das Wahlprogramm der AfD Thüringen genau studiert und finde nichts dergleichen, nicht einmal in Ansätzen, nicht einmal in einem möglichen "Subtext".

Wer anderes weiß, möge es mir schreiben, ich lerne gerne dazu. Ich gehe also bis zum Gegenbeweis davon aus, dass der Begriff "rechtsextrem" derzeit viel zu breit verwendet wird: Er umfasst eben nicht Terroristen und Gewalttäter oder Menschen, die die Demokratie durch eine Diktatur ersetzen wollen, sondern vor allem Menschen, die das Establishment und die gegenwärtigen Entwicklungen satthaben.

Wie diese Menschen pauschal ausgegrenzt werden sollen, zeigt auch der unglaubliche Versuch, den Thüringer AfD-Wählern überhaupt den demokratischen Impact abzusprechen: Es heißt dann etwa, die CDU Thüringen sei die stärkste demokratische Kraft des Landes geworden oder gar, die demokratischen Wahlen in Thüringen hätten ergeben, dass die CDU auf Platz eins ist.

Kann man mit einer kritischen Masse in der Bevölkerung weiter so umgehen, dass man diese pauschal als "Rechtsextremisten" punziert, die dem Nationalsozialismus huldigen und die Demokratie abschaffen wollen? Gibt es empirische Wählerbefragungen, die dies untermauern?

Wenn nein: Wer trägt hier eigentlich warum zur Spaltung der Gesellschaft bei? Schafft nicht eigentlich derjenige die Demokratie in Teilen ab, der den demokratischen Wählerwillen negiert? Ein Medium wie der "Spiegel" gehört hier dazu. Und das führt mich zu folgendem Punkt.

Ad 2, "Rechtsextremismus" als Kampfvokabel der Linken, aber auch in Teilen der CDU: Ich habe es sehr lange Zeit nicht begriffen. Aber wenn man sich die Sache einmal aus einer intellektuellen Distanz heraus und diskursanalytisch anschaut, dann fällt auf, dass jene am lautesten gegen den "Rechtsextremismus" wettern, der angeblich mit der AfD und der FPÖ ins jeweilige Land ziehen könnte, die am Futternapf der Linken oder (seltener!) der Konservativen hängen oder die mit den beiden Groß- oder Altparteien, die sich das Land aufgeteilt haben, meist aber mit den Rot(grün)en verbandelt sind.

Da werden in Österreich für den Spitzenkandidaten der FPÖ, Herbert Kickl, Begriffe wie "Giftzwerg" und "blauer Schlumpf" von Kulturschaffenden des Landes verwendet, ganz so, als würde das nicht ausgrenzen, als wäre das nicht wie auch immer in einem sehr negativen Sinne extrem(istisch), solche Begriffe für einen Menschen zu verwenden. Die Linken gestatten sich vieles, das von den Mechanismen her – ohne hier etwas relativieren zu wollen! – auch an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte erinnert:

Die Linken haben erstaunliche Techniken entwickelt, um ihre Strategien weitgehend unsichtbar werden zu lassen. Sie kritisieren etwa die "Echokammern" der "Rechtsextrem(ist)en" in den sozialen Medien, reagieren aber selbst auf kleinste Abweichungen von ihrem Weltbild auf den sozialen Medien mit sofortigem Diskursabbruch und immerwährender Verbannung. Der ORF-Journalist Armin Wolf hat dies vor wenigen Tagen wieder eindrücklich dokumentiert.

Meine Hypothese 2 lautet geschärft: Die Kampfvokabel "Rechtsextremist" wurde erfunden, um das dritte Lager (und das sind derzeit die AfD in Deutschland und die FPÖ in Österreich) nicht an die Futtertröge der Roten und der Schwarzen, also jener Parteien, die in Deutschland und Österreich das Land weitgehend unter sich aufgeteilt haben, heranzulassen.

Noch schlimmer: Das dritte Lager will einige dieser Futtertröge wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der derzeitigen Form abschaffen, ebenso wie Gender Studies.

Da läuten natürlich die Alarmglocken jener, die davon leben. Und genau jene erzählen uns in erstaunlicher Lautstärke und Brutalität, dass nun finstere Zeiten kommen würden, da ja "Rechtsextreme" und "Faschisten" in Deutschland die Macht übernommen hätten und in Österreich anstehen, die Macht zu übernehmen.

Vielleicht sollten wir die Begriffe "rechtsextrem(istisch)" und "linksextrem(istisch)" ganz suspendieren. Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat schon vor vielen Jahren einen viel griffigeren (Sekundär-)Code für das politische System vorgeschlagen: fortschrittlich (progressiv) vs. konservativ. Das wäre eine ganz andere Tonalität, die uns endlich vor dem Begriffsunfug bewahren würde, dass alle, die nicht links sind, Rechtsextremisten seien.

Stefan Weber ist habilitierter Medienwissenschaftler an der Universität Wien und Plagiatsprüfer. In einigen Leitmedien gilt er als "umstritten", seit er die Plagiatsfälle Baerbock und Föderl-Schmid in seinem Blog dokumentiert hat.