Warum sich Deutschland gerade jetzt für eine Aufnahme Taiwans in die WHO einsetzen sollte
Das neue chinesische Sicherheitsgesetz über Hongkong schreit geradezu nach einer Gegenreaktion. Deutschland & Europa können in dieser angespannten Lage ein wichtiges Zeichen setzen. Um die Demokratie in Hongkong zu verteidigen führt der Weg über Taiwans Unabhängigkeit
Es könnte kaum einen geeigneteren Zeitpunkt geben. Chinas Sicherheitsgesetz untergräbt in Hongkong die Proteste gegen den zunehmenden Einfluss Chinas auf die Stadt und bestraft Dissens gegen die Regierung. Das "nationale Sicherheitsgesetz" stellt seit dem 30. Juni Handlungen unter Strafe, die sich für eine Unabhängigkeit Hongkongs aussprechen oder die Lokal- und Zentralregierung untergraben. Auch Konspiration mit dem Ausland steht unter Strafe, darunter Aufrufe an Regierungen, Sanktionen gegen China zu verhängen. Zudem werden Gewalttaten gegen Personen und Beschädigungen der Infrastruktur als Terrorismus gewertet und geahndet.1 Für solche "Akte der Sezession" drohen 10 Jahre bis lebenslängliche Haft.2
Unter Art. 16 "HK Nationales Sicherheitsgesetz" errichtet China Hongkongs neuen Geheimdienst, das "Büro zur Sicherstellung Nationaler Sicherheit" innerhalb der Hongkonger Polizei. Nach Art. 60, 61 kann die Hongkonger Polizei diesen nicht behindern, kontrollieren oder durchsuchen, und lokale Gerichte nicht über ihn urteilen. Stattdessen sollen die örtlichen Behörden sie nach Kräften unterstützen.3 Mitglieder der Einheit erhalten damit einen Blankoscheck für die Interessen Pekings in der Stadt.
Als England im Jahr 1997 Hongkong an China übergab, verpflichtete sich China dazu, nach dem Prinzip "Ein-Land-Zwei-Systeme" bis 2047 den 'Lifestyle' der Menschen in Hongkong nicht zu verändern. Grundfreiheiten wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, Marktfreiheit und Eigentum sollten erhalten bleiben.4
Die Sicherheitsgesetze können nun dafür verwendet werden, politische Aktivist/innen anzugreifen. England sieht darin einen Vertragsbruch, Peking aber sieht den Umgang mit Hongkong als interne Angelegenheit.5
Am 15. Juli forderte Merkel bei einem Außenministertreffen in Brüssel eine gemeinsame Reaktion der EU auf die Hongkong-Krise. Ziel soll sein, den europäischen Export von Waren, die zur Niederschlagung von Protesten geeignet sind, zu untersagen.6
Vier Tage später stimmte das EU-Parlament dafür, den Internationalen Gerichtshof überprüfen zu lassen, ob das neue Sicherheitsgesetz Hongkongs Autonomie verletzt.7
Ob wegen Hongkong, Covid-19, den Auseinandersetzungen mit den USA8, dem Konflikt mit Indien im Himalaya, wo sich beide Seiten zu Dutzenden gegenseitig totschlagen9, oder Xinjiang im Westen - die chinesische Regierung steht gerade unter zunehmendem politischen Druck. Da die Zentralregierung zudem im Verdacht steht, Millionen Uiguren zu internieren, zu sterilisieren und Geburtenkontrolle zu erzwingen10, forderte Frankreich kürzlich eine Untersuchungskommission im Land.11
Derweil sind die Beziehungen zwischen Deutschland und China gut und für beide Seiten wichtig. Die chinesische Wirtschaft ist stärker mit der EU vernetzt12 als mit der US-amerikanischen.13 Insgesamt exportiert Deutschland sogar mehr nach China als England, Frankreich, Spanien, Italien und die Niederlande zusammen.14
Das andere China und die Pandemie
Wer mit Festlandchina Geschäfte machen will, muss das Ein-China Prinzip anerkennen. Die kommunistische Regierung setzt bei ihren zwischenstaatlichen Partnern voraus, dass sie das Festland als einziges China anerkennen. Das bedeutet auch, keine offiziellen Beziehungen mit Taiwan zu pflegen.15 Das Ein-China-Prinzip fußt in der Geschichte der chinesischen Revolution. Als Mao Zedong 1949 die Macht ergriff, floh die alte Regierung Chiang Kai-sheks nach Taiwan und setzte die "Republik China" auf der Insel fort.16 1971 erkannte die UN-Generalversammlung in Resolution 2758 die Festlandregierung der "Volksrepublik China" als einzige internationale Vertretung Chinas an. Taiwan hat zwar seit jeher eine eigene Regierung, diese wird von der UN aber bis heute nicht anerkannt.
Bisher hat die deutsche Außenpolitik die Anerkennung Taiwans vorsichtig umschifft, sich aber vor allem in jüngster Zeit beständig darauf zubewegt. Taiwan hat während der Pandemie herausragende Arbeit geleistet. Bei mehr als 23 Millionen Einwohner/innen hatte das Land ca. 460 Infizierte und 7 Tote17, ohne Lockdown.18 Die Insel hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt.19 "Die Erfahrungen, die Sie in Taiwan bei der Bekämpfung der Pandemie gewonnen haben", seien für Deutschland "von großem Nutzen", schrieb Jens Spahn seinem taiwanischen Kollegen Chen Shih-chung. Vor kurzem spendete Taiwan eine Million Masken an Deutschland. Diese seien "sehr willkommen" gewesen und umgehend zu Fachkräften mit dringendem Bedarf weitergeleitet worden. Der Gesundheitsminister wolle seinen herzlichen Dank "für die sehr enge und vertrauensvolle Kooperation" ausdrücken, schrieb Spahn vergangenen Donnerstag.20
Deutschland "unterstützt Taiwans Teilnahme in der Weltgesundheitsversammlung als Beobachter", verkündete am 15. Mai das Deutsche Institut in Taipei, das als inoffizielle Botschaft Deutschlands dient. Das Institut begründete die Unterstützung für Taiwans Anwesenheit damit, dass die Konferenz allen Parteien offenstehen solle, die bedeutende Beiträge zu weltweiten Gesundheitsfragen leisten können.21 Anfang Februar waren bereits taiwanesische Gesundheitsexpert/innen beim WHO-Forum gegen den neuen Coronavirus vertreten.22 Ob Taiwan in die Versammlung gelassen wird, hängt aber von der Gunst Chinas ab.23
Taiwans wiedergewählte Präsidentin Tsai Ing-wen fordert China auf, die Realität anzuerkennen, dass Taiwan bereits ein unabhängiges Land sei.24 Das Land in die UN aufzunehmen steht seit fast 50 Jahren aus, mehr als die Hälfte der Taiwanesen sind für die Unabhängigkeit.25 Um Taiwan international als eigenständigen Staat anzuerkennen, sind vor allem andere Staaten gefragt. Einen wichtigen Schritt dahin könnte der deutsche Gesundheitsminister gehen.
Jens Spahn hat sich in den vergangenen Wochen häufiger zur WHO geäußert und u.a. den amerikanischen Austritt kommentiert.26 Spahn könnte sich auch für einen Platz Taiwans in der WHO einsetzen. Der Gesundheitsminister könnte mit dem Einstehen für Taiwan Chinas Griff nach Hongkong entgegenwirken und sich damit den jeweils 60 Mitgliedern aus dem europäischen Parlament und dem Bundestag anschließen, die Anfang April Briefe unterzeichneten, die Taiwans Rolle während der Pandemie lobten und den Ausschluss aus der WHO als unfaire Diskriminierung anklagten.27
Die Teilnahme in der WHO setzt allerdings eine Mitgliedschaft in der UN voraus.28 Um als UN-Mitglied anerkannt zu werden, muss der Sicherheitsrat mit neun von 15 Stimmen, ohne Gegenstimme der Vetomächte, für eine Anerkennung stimmen, bevor zwei Drittel der Generalversammlung abstimmen und der Staat in die Gemeinschaft aufgenommen werden kann.29 Die Einladung in die WHO würde einen bedeutenden Schritt zur internationalen Anerkennung bedeuten und China in Zugzwang versetzen, wenn ein Land wie die BRD das Ein-China-Prinzip bricht. China würde dies wohl als Einmischung in die internen Angelegenheiten werten und müsste dann auf diese kleine, aber starke Geste Deutschlands reagieren. Ob China nach 70 Jahren faktischer Unabhängigkeit zu den jetzigen Rahmenbedingungen die Beziehungen gegenüber Deutschland verhärtet, kann bezweifelt werden. Gleichzeitig hätten viele andere Staatschefs die Chance, es der BRD gleichzutun und sich damit gegen die chinesische Aggression zu positionieren.
Deutschland hat sich erst kürzlich wieder in der Bundespressekonferenz zur Ein-China-Politik bekannt.30 Früher oder später muss die BRD aber von diesem Bekenntnis abkommen, sonst würde sogar ein militärisches Eingliedern Taiwans unkommentiert bleiben müssen. Denn was nicht als unabhängig anerkannt ist, kann man auch nicht annektieren. Wenn also die internationale Gemeinschaft an der Ein-China-Politik festhält, bleibt Taiwan weiterhin eine interne Angelegenheit Chinas. Damit könnten Invasion und/oder ähnliche Maßnahmen wie in Hongkong dort nicht gekontert werden. Deutschland und andere Staaten sollten sich daher jetzt hinter Taiwan stellen und ein Zeichen setzen: Nach über 70 Jahren faktischer Unabhängigkeit ist Taiwan reif für die Anerkennung.