Warum sich der Kompass irren kann
Das magnetische Feld der Erde wandert in Äquatornähe bis zu 26 Kilometer jährlich
Wer lernt, mit dem Kompass umzugehen, hört häufig, dass Mutter Erde ein großer Stabmagnet ist, dessen magnetischer Pol auf unserer nördlichen Halbkugel zum geographischen Nordpol etwas verschoben ist und deshalb als Missweisung (Deklination) einberechnet wird. Der Eindruck wird noch verfestigt durch Kartographen, die ungeniert Daten aus den Vorvor-Versionen übernehmen. Die Wirklichkeit, so vermuteten es bereits Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Eduard Weber 1832 in Göttingen, ist ungleich komplizierter. Seit dem ersten Magnetischen Observatorium und der bahnbrechenden Publikation von Gauß, "Die erdmagnetische Kraft auf ein absolutes Maß zurückgeführt", ist die Erforschung des Erdmagnetismus zur eigenständigen Wissenschaft geworden.
Heute nun legen Christopher C.Finlay und Andrew Jackson von der School of Earth Sciences an der University of Leeds in Großbritannien in Science Berechnungen vor, nach denen seit 400 Jahren ein westwärts gerichteter magnetischer Fluss wirksam ist. Die Veränderungen sind in der nördlichen Halbkugel stärker ausgeprägt als im Süden und lassen für die Zone nördlich des Äquators eine Bewegung in der Größenordnung von 17-26 Kilometern jährlich errechnen.
Die Ergebnisse stützen sich auf ein Bündel von Daten unterschiedlicher Herkunft. Die Registrierung des Magnetismus hat mit Carl Friedrich Gauß erst 1832 begonnen. Heute liefern 200 weltweit verteilte Messstationen regelmäßige Informationen. Da der Magnetismus über die Erdoberfläche hinausgreift, ergänzen Messsonden in Satelliten das irdische Bild. Ältere Daten stammen überwiegend aus Gesteinsproben wie die Bezeichnung Magnetit (Magneteisenstein) beweist, dem seit dem Altertum magische Kräfte innewohnen sollen.
Die Universität von Leeds hält zusätzlich wertvolle Aufzeichnungen, die Andrew Jackson zusammen mit Jeremy Bloxham in den 80er Jahren sorgfältig zusammentrug. Aus Schiffslogbüchern lasen die Forscher die Deklination aus und verglichen diese Daten mit den geographischen Schiffspositionen. Die vergleichenden Beobachtungen führten Jeremy Bloxham und Andrew Jackson zu ihrer Frozen-Flux-Hypothese. Beseelt von dem Gedanken, dass der Erdmagnetismus das Ergebnis eines im Erdinneren liegenden Dynamos ist, waren sie davon überzeugt, nicht nur die Inklination, also die radiale Komponente des magnetischen Feldes messen zu können, sondern auch die tangentiale Bewegung. Die, so ihre Hypothese, lässt sich als Fließverhalten (Flux) ermitteln, weil zusätzliche Diffusionsprozesse keine Rolle spielen. Unter diesen Gesetzmäßigkeiten benutzten sie die Daten der Seefahrer gleichwertig zu den physikalischen Daten und kartographierten danach die Verhältnisse des Erdmagnetismus zurück bis zum 17.Jahrhundert. Obwohl der irdische Geodynamo zwischenzeitlich experimentell bewiesen werden konnte, beruht die Frozen-Flux-Hypothese auf verschiedenen Annahmen, von denen einige nicht von allen Wissenschaftlern gleichermaßen geteilt werden.
Christopher C.Finlay, der nun mit Andrew Jackson zusammenarbeitet, hat mit der Zeitreihenanalyse einen neuen Berechnungsmodus beigesteuert. Die Stärke der Zeitreihenanalyse liegt in der Zusammenschau von sequentiellen Ereignissen wie etwa dem Verlauf der Aktienkurse mit der Chance, Trendanalysen und Prognosen abzuleiten. Da liegt es nahe, gesicherte Beobachtungen in die Vergangenheit anstatt in die Zukunft zu verfolgen. In beiden Fällen wird das Originalsignal zerlegt.
Rechnerisch geht es um saisonale Effekte, die erst durch die Rechenprozedur als eindeutige Peaks sichtbar werden, oder um die Autokorrelation, mit der nach versteckten Informationen in der fortlaufenden Datenfolge gesucht wird. Christopher C.Finlay und Andrew Jackson beleuchten, mathematisch gut begründet, die Residuen der Zeitreihe (Residualanalyse) und somit das magnetische Residualfeld an der Erdoberfläche. Auf diese Weise kann die dynamische Feldmorphologie dargestellt werden, ohne die Frozen-Flux-Hypothese bemühen zu müssen. "Anspruchsvoll sind sie schon, die Rechenoperationen," gesteht Christopher C.Finlay zu. Im Endergebnis führen sie zur Erkenntnis, dass ein prominenter Peak am Äquator eine robuste Bewegung westwärts macht. Beim Blick zurück wird ein weiterer kleiner Peak für die Zeit von 1750-1880 erkennbar, dessen magnetische Kraft inzwischen verschwunden ist.
In ihrem begleitenden Kommentar geben Catherine L.Johnson und Kollegen vom Institute of Geophysics and Planetary Physics an der University of California ihrer Befürchtung Ausdruck, dass unbekannt sei, ob die Zahl und Qualität der Messpunkte ausreichen, um die Entwicklung über 400 Jahre hinreichend detailliert zu skizzieren. Zudem beschränkten sich die Daten der Seefahrer auf die damaligen Routen und ließen notwendigerweise viele Areale der Erde aus. Ferner argumentierten Mathematiker, dass über die langen Zeiträume vergleichbare Daten wie Brückenpfeiler in gleichen Abständen vorliegen sollten. Folgt man diesen strikten Bedingungen, ist nach Auffassung der amerikanischen Forscher die Entwicklung des Geomagnetismus nur für zwei Zeitepochen gut begründet, nämlich für das Intervall bis vor 3000 Jahren, und für die Epoche, die bis zu 5 Millionen Jahre zurückgeht.
Für diese Zeiträume liegen jeweils eindeutig klassifizierte Sequenzen vor. Die harten Kriterien sind die Feldstärke aus Gesteinsproben und die relative Intensität typischerweise aus Sedimenten. Das sind zweifellos aufwendige Verfahren, die zudem sicherstellen müssen, dass der Magnetismus der Proben nicht künstlich, etwa beim Bohren, verändert wurden und keine Zweifel an der zeitlichen Zuordnung aufkommen lassen.
Die chronologischen Daten erhärten frühere Vermutungen, wonach das irdische Magnetfeld mehrmals seine Richtung und Intensität geändert hat. Folglich, so die Schlussfolgerung der amerikanischen Forscher, kann das Magnetfeld nur synoptisch beurteilt werden, indem Richtung und Intensität gleichermaßen in die Betrachtung eingehen. Dagegen sind die Informationen der Schiffsleute eindimensional.
"Diese Meinung ist nicht ganz fair," meint Christopher C.Finlay. Für viele Geophysiker ist die Zeitreihenanalyse eine ungewöhnliche Betrachtungsweise. Vielleicht sogar anrüchig, weil sie aus der empirischen Wirtschaftswissenschaft kommt und im Prinzip auf die Verknüpfung oder Abweichungen prüft und dazu keine physikalischen Gesetze wie das Fließgleichgewicht braucht. Für das Modell aus Leeds spricht zudem, dass es unter denselben Bedingungen den seit 40 Jahren kontinuierlich messbaren Trend korrekt abbildet: die Position der magnetischen Pole wandert westwärts.
Die von modellhaften Betrachtungen unabhängige Erkenntnis veranlasst das National Geophysical Data Center der Vereinigten Staaten die Lage der magnetischen Pole in 5-Jahres-Intervallen zu aktualisieren. Die Daten für den Zeitraum von 1900 bis 2005 können online abgefragt werden.
Ein Meilenstein in der Theorie des Erdmagnetismus wurde 2002 im Forschungszentrum Karlsruhe gesetzt. Dort gelang es, den im Erdinneren verborgenen Geodynamo zu beweisen. Flüssiges Natrium als elektrisch leitfähiges Medium wurde bewegt und erzeugte durch die Strömungen ein sich selbst stabilisierendes Magnetfeld. Ziemlich zeitgleich hatten Gary Glatzmaier und Mitarbeiter vom Los Alamos National Laboratory in mehrjähriger Arbeit eine Computersimulation an Großrechnern zum Abschluss gebracht und in Nature veröffentlicht. Danach geht die Kraft von einem unregelmäßigen lang gestreckten Körper im Erdinneren aus. Die Simulation veranschaulicht zugleich das Übergreifen der magnetischen Feldlinien bis hin zur Magnetosphäre.
Der Kompass wird bald von GPS (Global Positioning System) abgelöst. Die magische Kraft hingegen bleibt wie seit Jahrtausenden im Dunkeln, gespeichert im schwarzen Magnetit, oder als unsichtbare Kraft, über deren Auswirkungen wir all zu wenig wissen.