"Warum sollen wir uns mit so einer wirtschaftlichen Ordnung abfinden?"
Seite 3: TTIP und der Eigentumsbegriff
Derzeit geht der Trend in die entgegengesetzte Richtung. Freihandelsabkommen wie TTIP wollen den privaten Eigentumsbegriff in Bezug auf Unternehmen noch ausweiten. Zukünftig sollen bekanntlich sogar die Gewinnerwartungen der Unternehmen geschütztes Eigentum sein und jede staatliche Einschränkung von Gewinnen somit eine "Enteignung". TTIP stößt nun gerade auch deswegen auf Widerstand in der Bevölkerung. Haben es die Freihandelsbefürworter übertrieben?
Sahra Wagenknecht TTIP ist pervers, aber im Grunde bedeutet es nichts anderes als den Neoliberalismus bis zur letzten Konsequenz zu treiben. Sie hatten das schon einmal vor gut 20 Jahren mit dem internationalen Abkommen MAI versucht, das damals am massiven Widerstand gescheitert ist. Auch TTIP können wir zum Scheitern bringen.
Aber im Grunde zeigen all diese Abkommen einen realen Widerspruch auf: Kapitalismus und Demokratie passen nicht zusammen. Es war eine Zwangsheirat und keine Liebesehe, dass dem Kapitalismus demokratische Staatsverfassungen aufgezwungen wurden. Und die Wirtschaftseliten versuchen seither alles, die Politik wieder gegen demokratische Entscheidungen abzuschirmen. Diesem Zweck dienen europäische Verträge wie der Fiskalpakt und eben auch Abkommen wie CETA und TTIP.
Die heute weltweit den Markt dominierenden Kapitalgesellschaften und insbesondere die Aktiengesellschaften (AGs) sind im Kern ein seltsames Konstrukt: unbegrenzte private Gewinne bei begrenzter privater Haftung. Sie nennen das in Ihrem Buch den eigentlichen "Clou" des Kapitalismus und weisen darauf hin, dass Aktiengesellschaften bis ins 19. Jahrhundert nur für "öffentliche Zwecke" zugelassen waren, wie etwa den Eisenbahnbau oder den Fernhandel mit den Kolonien. In England musste bis 1844 das Parlament über die Zulassung jeder AG abstimmen. Auch in den USA gab es öffentliche Kontrollrechte und das Parlament erteilte den AGs zeitlich begrenzte Konzessionen für ganz bestimmte Zwecke. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts lockerten sich diese Regelungen. Waren die Staaten damals schon mal weiter als heute?
Sahra Wagenknecht Naja, die vermeintlichen "öffentlichen Zwecke" waren damals natürlich auch keine edlen, in den Kolonien etwa ging es um die gemeinschaftliche maximale Ausplünderung der betroffenen Länder. Aber zumindest hat man damals noch gesehen, dass es ein Widerspruch ist, dass ein Investor nur mit seinem investierten Geldbetrag haftet, aber unbegrenzten Zugriff auf alle im Unternehmen erwirtschafteten Gewinne hat. Heute erzählt man den Leuten, Risiko und Gewinn stünden in der Wirtschaft in engem Zusammenhang. Das ist völliger Quatsch. Die größten Erträge werden heute da eingestrichen, wo das Risiko aufgrund der Marktbeherrschung am niedrigsten ist und der Staat oft auch noch den Unternehmen mit Forschungssubventionen und Hilfen im Krisenfall den Rücken freihält.
Es ist interessant, dass Sie den Fokus auf die Rolle der Aktiengesellschaften legen. Denn auch der Bankensektor erlebte einen großen Machtzuwachs im Zuge der Gründung von AGs, in Deutschland etwa im späten 19. Jahrhundert. Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank entstanden alle in den 1870er Jahren als AGs. Begrenzte private Haftung und anonymes, austauschbares Leitungspersonal sind seither Grundregeln auch des Bankgeschäfts und werden kaum mehr in Frage gestellt.
Sie sagen, die Kapitalgesellschaft sei die typische Eigentumsform des Kapitalismus, weil ihm die Trennung von Anleger und Unternehmer zugrunde läge. Meinen Sie, dass auch beim Bankensektor heute über neue Formen von Eigentum nachgedacht werden sollte? Und falls ja, dann nochmals nachgefragt: Sie sprechen nicht von einer Überführung in Staatseigentum, oder?
Sahra Wagenknecht Ich habe ein langes Kapitel in meinem Buch den nötigen Neuordnungen im Finanzsektor gewidmet. Geld ist ein öffentliches Gut. Deshalb gehört die Geldversorgung der Wirtschaft nicht in die Hände unverantwortlicher Zockerbuden, sondern von Instituten, die ich Gemeinwohlbanken nenne und die mit Gemeinwohlauftrag arbeiten und sich als Diener der Realwirtschaft verstehen. Das ist allerdings etwas ganz anderes als eine schlichte Verstaatlichung. Wir haben bei den Landesbanken gesehen, dass auch Staatsbanken zu Zockerbuden werden können. Es geht also zwar einerseits um Eigentumsformen, die blinde Renditeorientierung ausschließen, aber zugleich um strenge Regulierung.
Umwandlung in Gemeinwohlbanken
Wie könnte eine Bank denn konkret in ein solches Eigentumsmodell umgewandelt werden?
Sahra Wagenknecht Mein Vorschlag ist in dieser Hinsicht relativ marktwirtschaftlich. Alle Banken, die privat bleiben wollen, können das tun, aber sie verlieren jede Form der öffentlichen Unterstützung: kein billiges Zentralbankgeld mehr, keine Staatshaftung, keine staatliche Einlagengarantie. Außerdem verlieren sie das Privileg der Geldschöpfung aus dem Nichts, Kredite müssen also durch längerfristig angelegte Spargelder abgedeckt werden.
Wenn private Banken unter solchen Bedingungen sich am Markt halten und Menschen bereit sind, ihnen ihr Geld anzuvertrauen, ok. Meine These ist, dass das die wenigsten können, denn der aktuelle Finanzsektor funktioniert ja nur mit und dank der Staatshaftung, was ja schon zeigt, wie absurd die Verhältnisse sind. Private Pleitebanken können dann auf isländische Art in Gemeinwohlbanken umgewandelt werden, indem man die werthaltigen Kredite und die Spargelder auf eine Good Bank überträgt und alles andere in einer Bad Bank verwertet. Inhaber von Bankaktien und -anleihen oder derivativen Eigenkapitalinstrumenten werden bei dieser Umwandlung Geld verlieren, der normale Sparer nicht.
In Ihrem letzten Buch stützten Sie sich auf Argumente des CDU-Politikers Ludwig Erhard, im aktuellen Buch zitieren Sie mehrfach liberale Ökonomen wie Alexander Rüstow und Walter Eucken. Eine Kapitalismuskritik, die sich auf konservative Stimmen beruft oder auf die sogenannten Ordoliberalen, irritiert manche Linke. Was antworten Sie linken Kritikern, die sich nicht mit Konservativen und Liberalen in ein Boot setzen wollen?
Sahra Wagenknecht Die Ordoliberalen sind in vieler Hinsicht kapitalismuskritisch und radikal. Wenn die heutige SPD in ihren wirtschaftspolitischen Konzepten auch nur annähernd so mutig Wirtschaftsmacht attackieren würde, wäre ich glücklich. Schon das Godesberger Programm war deutlich angepasster als vieles, was Leute wie Walter Eucken und Alexander Rüstow sich auf die Fahne geschrieben haben. Wenn der Letztere etwa eine Erbschaftsteuer von 100 Prozent oberhalb des Betrags normaler Lebensersparnisse fordert, dann ist das mehr, als sich mancher Linke heute traut. Walter Eucken hat massiv für eine Entflechtung großer Konzerne plädiert - und an dem Punkt waren die Ordoliberalen dann auch von Ludwig Erhard enttäuscht, der bei der Debatte um ein Kartellgesetz mit Biss am Ende vor der Wirtschaft eingeknickt ist.
Zukunft in nationalen oder europäischen Instanzen?
Es gibt in der Linken eine Kontroverse darüber, ob die Zukunft eher in europäischen oder in nationalen Institutionen liegt. Nationales gilt vielen Linken als tendenziell rechts und rückwärtsgewandt. In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass die europäische Wirtschaftsunion von vornherein auch ein Projekt zur Schwächung öffentlicher Kontrolle über die Wirtschaft gewesen sei. Dazu zitieren Sie den neoliberalen Vordenker Friedrich August von Hayek, der 1976 geschrieben hatte:
"Die Abschaffung souveräner Nationalstaaten und die Schaffung einer wirksamen internationalen Rechtsordnung sind die notwendige Ergänzung und logische Vollziehung des liberalen Programms. [Denn:] … alles in allem ist es wahrscheinlich, dass in einem [europäischen] Bundesstaat die Macht des Einzelstaates über die Wirtschaft allmählich viel weitgehender geschwächt würde und auch sollte, als es zunächst offenbar sein wird."
Es scheint, als seien TTIP oder auch die Eurogruppe bzw. die Troika als informelle EU-Wirtschaftsregierung nun der vorläufige Endpunkt solchen antidemokratischen Denkens. Kann ein überstaatliches europäisches Parlament in dieser Ordnung heute souverän agieren? Sie saßen selbst im Europäischen Parlament - wie haben Sie das erlebt? Und weshalb sind Ihrer Ansicht nach nationale Parlamente am Ende einflussreicher?
Sahra Wagenknecht Im EU-Parlament haben die Lobbyisten großer Konzerne und Banken tatsächlich noch weit mehr Einfluss als in jedem nationalen Parlament. Ich habe es selbst erlebt: In den EU-Ausschüssen hocken bei normalen Sitzungen oft mehr Lobbyvertreter als Abgeordnete. Auch das Umgarnen und Einkaufen der Abgeordneten läuft in Brüssel viel direkter und ungenierter als etwa in Berlin.
Nicht zufällig kommen in der deutschen Hauptstadt auf einen Abgeordneten 8 Lobbyisten, in Brüssel sind es 20. Das hat einfach damit zu tun, dass das Raumschiff der europäischen Institutionen viel weiter weg von den Bürgern ist, und deshalb auch viel weniger unter öffentlicher Beobachtung und Kontrolle steht. Es gibt nicht zufällig keine wirklichen europäischen Parteien, sondern die Fraktionen im Europäischen Parlament sind aus nationalen Parteien zusammengewürfelt. Die politische Kultur ist in den einzelnen Ländern viel zu unterschiedlich, man spricht noch nicht einmal eine gemeinsame Sprache. Deshalb beteiligen sich ja auch an den Wahlen zum Europäischen Parlament viel weniger Bürger als an nationalen Wahlen.
Die europäische Demokratie steht damit auf schwachen Füßen. Wenn dennoch immer mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene übertragen werden, bedeutet das nichts anderes als den Abbau demokratischer Einflussmöglichkeiten. Genau deshalb hat Hayek für einen europäischen Bundesstaat geworben: er war überzeugt, dass man so die Demokratie durch die Hintertür abschaffen kann.
Sahra Wagenknechts Buch "Reichtum ohne Gier: Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten ist im Campus-Verlag er
Von Paul Schreyer ist zuletzt im Westendverlag erschienen: "Wer regiert das Geld?: Banken, Demokratie und Täuschung".
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