Warum wir Russland nicht mit Saudi-Arabien vergleichen dürfen – aber sollten!
Auf die russische Invasion folgen historische Sanktionen und Rekord-Waffenlieferungen an die Ukraine. Saudi-Arabien wird für seinen Krieg im Jemen, Terrorfinanzierung und Journalistenmord belohnt. Warum der Vergleich tabu, aber lehrreich ist.
Seit Russlands Invasion in die Ukraine ist ein gefährlicher Stellvertreterkrieg ausgebrochen. Der Westen liefert seitdem Waffen auf Rekordniveau (im Wert von bisher 100 Milliarden Dollar) an das ukrainische Militär, während ein historisches Sanktionsprogramm eine weltweite Nahrungsmittel- und Energiekrise erzeugt, unter der vor allem die Länder des Globalen Südens und die einfachen Menschen, wo immer sie leben, zu leiden haben. Diplomatie wird abgelehnt und die Maxime ausgerufen, Russland zu schwächen oder gar zu besiegen.
Die Frage, die jedem förmlich auf der Zunge liegen müsste, ist: Was ist derart anders am Verhalten von z.B. Saudi-Arabien, dass nichts dergleichen in solchen Fällen auch nur angedacht werden kann? Warum wird bei Saudi-Arabien weggeschaut, obwohl die repressive Öl-Monarchie seit vielen Jahren ein anderes Land bombardiert und eine der schlimmsten humanitären Katastrophen seit Jahrzehnten ausgelöst hat, weltweit Terror züchtet und unterstützt, sehr wahrscheinlich in die Anschläge von 9/11 involviert gewesen ist und einen kritischen saudischen Journalisten, der für die Washington Post arbeitete, in Istanbul ermorden ließ? Warum wird das repressive und brutale Regime trotzdem weiter vom Westen, insbesondere den USA und Deutschland, hofiert und belohnt?
Solche Fragen werden in der breiten medialen Öffentlichkeit nicht diskutiert und mit dem Verweis auf pragmatische Realpolitik schnell beiseite gelegt. Es mag daran liegen, dass die Antwort darauf die "wertebasierte Außenpolitik" des Westens unter Führung der USA in Frage stellen könnte. Denn Werte basieren nun einmal auf universellen Prinzipien, also auf dem Grundsatz, Gleiches gleich zu behandeln.
Sicherlich, Vergleiche sind immer ungenau und holprig. Aber die groben Linien sollten nicht wirklich strittig sein. Das Putin-Regime und die Verbrechen in der Ukraine werden in den Medien seit vielen Jahren breit geschildert, nicht selten überzeichnet und ohne bzw. verzerrte Kontexte dargeboten, um die russische Kriminalität als beispiellos darzustellen. Aber es sei daran erinnert, dass das saudische Königshaus in Riad dem Beispiel Moskaus nicht nur in Nichts nachsteht, sondern, was die kriminelle Energie angeht, die Nase eher vorne hat.
Ein kleiner kursorischer Überblick muss reichen: Seit Saudi-Arabien und die von ihr angeführt Golf-Allianz den Jemen bombardiert, sind 4,1 Millionen Menschen aus dem Land auf der Flucht. 375.000 Jemeniten oder 1,25 Prozent der Bevölkerung sind seit 2015 durch Kampfhandlungen sowie kriegsbedingten Hunger oder Krankheiten getötet worden. 19 Millionen Menschen leiden aktuell an Hunger, insbesondere viele Kinder sind weiter vom Hungertod bedroht. Beim Uno-Büro für die Koordinierung von humanitären Angelegenheiten (OCHA) spricht man deshalb von der "schlimmsten von Menschen erzeugten humanitären Katastrophe seit vielen Jahrzehnten."
Diese "humanitäre Katastrophe" – darunter die größte jemals dokumentiert Cholera-Epidemie, die im Land wütet – ist nicht vom Himmel gefallen. Die saudische Regierung kontrolliert streng die Hilfslieferungen, blockiert die Zugänge zu See, Luft und Land. Die saudische Luftwaffe hat selbst Flüchtlingsschiffe angegriffen und den lebenswichtigen Hafen Hodeida, über den fast alle notwendigen Lebensmittel und Medizin ins Land kommen, völkerrechtswidrig gesperrt.
Saudi-Arabien gilt auch als Zentrum eines radikalen Islamismus. Abgesehen von zwei Ägyptern waren alle Flugzeug-Entführer der Anschläge von 9/11 Bürger Saudi-Arabiens. Schon lange weiß man, dass es eine Verbindung zwischen zumindest untergeordneten Amtsträgern in Saudi Arabien und den Terroranschlägen vom 9. September 2001 in den USA gibt.
Doch die Belege für die "Saudi Connection" und den Angriffen wurden lange von der US-Regierung unter Verschluss gehalten. Man kann davon ausgehen, dass geopolitische Interessen den Ausschlag für die Geheimhaltung gaben. Nun sind einige davon ans Tageslicht gekommen. Erste Leaks zeigen die Verflechtungen des saudischen Netzwerks mit den Entführern. So vermeldete The Intercept schon vor einem Jahr:
Zwei Jahrzehnte später (nach den Anschlägen von 9/11, Telepolis) jedoch verdichten sich die Hinweise darauf, dass hochrangige saudische Beamte, darunter ein Diplomat der saudischen Botschaft in Washington, zwei der Al-Qaida-Entführer, Khalid al-Mihdhar und Nawaf al-Hazmi, die als erste der Entführer im Jahr 2000 in die Vereinigten Staaten kamen und zuvor etwa anderthalb Jahre in San Diego lebten, indirekt unterstützt haben könnten.
US-Medien berichten vor kurzem über einen neuen FBI-Bericht, in dem festgestellt wird, dass saudische Regierungsbeamte ein Unterstützungsnetzwerk für die Flugzeugentführer vom 11. September 2001 bereitgestellt haben sollen. Auch über 9/11 hinaus gibt es immer wieder Hinweise darauf, dass Saudi-Arabien Terrororganisationen unterstützt. Phyllis Bennis vom Institute for Policy Studies in Washington D.C. verweist zum Beispiel auf die Rolle Saudi-Arabiens bei der Finanzierung des Islamischen Staats.
Wir wissen zum Beispiel, dass große Teile der Gelder für den IS, die schrecklichste aller Terrororganisationen, aus Saudi-Arabien stammen. Wir können noch nicht sagen, ob sie direkt von der Regierung, der Königsfamilie, staatlichen Institutionen oder frustrierten Individuen bereitgestellt wurden. Aber wir wissen, dass das Geld aus Saudi-Arabien kommt. Saudi Arabien ist ein in sich abgeschlossenes Land mit enormer staatlicher Kontrolle. Wenn die Führung diesen Geldfluss eindämmen wollte, aus welchen Quellen auch immer er stammt, dann könnten sie das. Das Land hat sich jedoch entschieden, nichts zu unternehmen.
Man könnte so weiter machen, die Liste ist lang.
Vergleich würde operatives Betriebssystem des Westens offenlegen
Es gäbe also reichlich Gründe, Saudi-Arabien unter Druck zu setzen, Transparenz und Aufklärung einzufordern und die Monarchie zu einem Umlenken bezüglich ihrer kriminellen Aktivitäten zu bewegen. Doch das Gegenteil ist der Fall.
In den ersten drei Jahren, in denen Saudi-Arabien und seine Verbündeten im Jemen Krieg führten, hat allein die deutsche Bundesregierung, von den USA ganz zu schweigen, Ausfuhrgenehmigungen für Waffen an die Staaten der Golfallianz (darunter neben Saudi-Arabien unter anderem Katar, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuweit und Marokko) von über 4,6 Milliarden Euro genehmigt. Dazu kommen nicht genehmigungspflichtige militärische Joint Ventures deutscher Unternehmen im Ausland und deutsche Bankenfinanzierungen für Rüstungskonzerne, die an die kriegsführende Golf-Allianz Waffen liefern.
Die Ermordung von Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul vor vier Jahren durch ein Mordkommando – das nach amerikanischen Geheimdienstinformationen von Kronprinz bin Salman beauftragt wurde, was auch die offizielle Linie der Biden-Regierung ist –, konnte zwar bewirken, was der brutale Krieg in Jemen über Jahre nicht konnte. Im Zuge der internationalen Empörung sah sich die deutsche Regierung gezwungen, die Waffenlieferungen vorläufig auf Eis zu legen.
Doch nach der jüngsten Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz an den Golf vor gut einer Woche wurde diese Entscheidung wieder einkassiert. Die Ampelregierung genehmigt nach der Export-Pause nun wieder Waffenlieferungen an Saudi-Arabien sowie auch andere Golfmonarchien und Ägypten. Im Gegenzug hat Deutschland ein wenig Erdgas und Diesel aus dem Golf erhalten – und eine Perspektive auf weitere fossile Brennstoffe und Wasserstoff.
Tagesschau Online berichtete von der "hochproblematischen" Entscheidung, die "Experten" für "höchst bedenklich" halten, weil sie "ein Bruch des Koalitionsvertrag" darstelle. In einer Zwischenüberschrift heißt es "Saudische Kriegsverbrechen?", wobei das Fragezeichen dadurch legitimiert wird, das im Text die Ansicht von Human Rights Watch gegen die Saudi-Arabiens gestellt wird: "Die saudischen Herrscher wiesen solche Vorwürfe (Kriegsverbrechen wie die Bombardierung von Krankenhäusern, Kindergärten oder Schulen, Telepolis) zurück".
Machen Sie die Gegencheck: Wenn Deutschland Waffen an Russland liefern würde, während es weiter Krieg in der Ukraine führt, wäre diese Entscheidung dann "höchst bedenklich", weil sie "ein Bruch des Koalitionsvertrags" ist? Würde ein Fragezeichen hinter "Russische Kriegsverbrechen" dadurch gerechtfertigt sein, weil Moskau die dokumentierten Kriegsverbrechen einer internationalen Menschenrechtsorganisation zurückweist? Und wäre es okay, die Meldung im Tages-Newsbetrieb geräuschlos unterzupflügen, ohne Follow-Up-Berichterstattung, moralische Empörung und damit politischen Druck auf die Verantwortlichen auszulösen?
Das eigentliche Signal für die "Normalisierung" der Beziehung zum saudischen Königshaus gab aber der Besuch des US-Präsidenten Joe Biden im Juli. Der bekannt gewordene Faustgruß auf offener Bühne mit dem Kronprinzen Mohammed bin Salman sendete das eindeutige Signal: Die Vereinigten Staaten halten an der strategischen Beziehung zu Saudi-Arabien fest, die von der kleinen "Eiszeit" nach dem Khashoggi-Mord nie wirklich in Frage gestellt wurde.
Denn das Land ist neben Israel ein enger und wichtiger Verbündeter der USA, um in der ressourcenreichen Region globale Dominanz auch gegenüber dem Rivalen Iran zu behaupten. Dass Biden im Wahlkampf Saudi-Arabien noch als "Paria" bezeichnete, ist längst Geschichte. Die Position seines Vorgängers Donald Trump gegenüber der Monarchie am Golf ist nun auch Bidens Position. Der Kronzprinz Mohammed bin Salman hat vorsorglich über seine Anwälte verlauten lassen, dass er in Folge der Ernennung zum Ministerpräsidenten des Landes nun "Immunität" genieße. Die Klage der Witwe des ermordeten Journalisten in den USA gegen ihn solle daher abgewiesen werden.
Natürlich hätte der US-Präsident bei seinem Besuch statt einiger mahnender Worte Richtung saudischen Kronprinz deutlicher werden können. "Da wir Saudi-Arabien verantwortlich machen für den Journalisten-Mord und die schlimmste humanitäre Katastrophe seit langem im Jemen, werden wir keine Waffen mehr liefern, solange der Krieg fortgesetzt wird und keine echte Aufklärung und juristische Verfolgung in Sachen Khashoggi stattgefunden hat." Aber solche Worte fielen nicht. Es wurden keinerlei Bedingungen an die neuen US-Waffenlieferungen an Saudi-Arabien im Wert von vielen Milliarden Dollar geknüpft.
Dafür erbat sich Biden vom Königshaus in Riad – wenn auch nicht öffentlich geäußert –, die Ölproduktion zu erhöhen, um russisches Öl zu ersetzen und die Kraftstoffpreise weltweit – und in den USA – zu senken. Eine Bonanza für die Öl-Monarchie. Wie sich herausstellte, hat Saudi-Arabien seine Importe von billigem russischem Öl zu reduzierten Preisen aufgrund der Sanktionen für den Inlandsverbrauch verdoppelt, um sein eigenes Rohöl auf dem Weltmarkt zu den derzeitigen Mond-Marktpreisen verkaufen zu können.
Die Reaktion westlicher Staaten auf die Verbrechen Russlands und Saudi-Arabiens sind also extrem unterschiedlich, um es moderat zu formulieren. Im einen Fall fluten Waffen in Rekordhöhe an die Gegenseite und werden historische Sanktionen verhängt, um den Paria der Weltgeschichte zu stoppen oder gar zu stürzen, ungeachtet der globalen Folgen und Risiken. Im anderen werden dem Verbrecher-Clan lukrative Geschäfte unterbreitet.
Aber wie gesagt, Vergleiche wie die zwischen Russland und Saudi-Arabien werden nicht wirklich angestellt. Und wenn sie in der Debatte aufkommen, dann werden schnell Schutzschirme ausgefahren. Einer lautet auf den Namen: Whataboutism. Es heißt: "Lenk nicht von den Verbrechen Putins und vom Leiden der Ukrainer:innen ab". Als ob es darum ginge.
Wovon die Bürger:innen dabei abgeschirmt werden sollen, ist die Einsicht in das operative Betriebssystem westlicher Außenpolitik, das in den moralischen Treibsand steuert bzw. dort schon ziemlich lange feststeckt: Wenn geostrategisch wichtige und treue Bündnispartner Verbrechen begehen (oder gar die westliche Allianz selbst, siehe Afghanistan, Irak oder die vielen unkonventionellen "Militäroperationen" der USA auf der ganzen Welt), ist das etwas ganz anderes, als wenn unsere erklärten Gegner und Rivalen das gleiche unternehmen.
Das ist offensichtlich zutiefst ungerecht und empörend – und kann auch nicht mit realpolitischen, diplomatischen Verrenkungen schön geredet werden. Im Sinne von: Wir wollen auf unsere Bündnispartner weiter Einfluss nehmen und uns auf diesem Weg für Menschenrechte einsetzen – was angesichts der Erfolge kaum glaubwürdig ist.
Vor allem setzt es einen Erosionsprozess in Gang. Mit dem ausgehebelten Gleichheitsprinzip droht das ganze Wertesystem baden zu gehen. Nach innen wie nach außen. Am Ende glaubt niemand mehr den politisch Verantwortlichen, wenn sie vom Kampf für das Gute, hehre Werte und den Fortschritt in der Welt reden. Das ist auch einer der Gründe, warum die liberalen Eliten in den USA und Europa unter Druck stehen, während autoritäre und rechte Kräfte das für sich zu nutzen wissen.
In den Teilen der Welt, die westliche Werte oft genug in der Vergangenheit zu spüren bekommen haben, wird die Ungleichbehandlung nach dem Freund-Feind-Schema mit Achselzucken quittiert. Besser nicht, sich auf die Werte-Bekundungen des westlichen Staatenbündnisses unter Leitung der USA zu verlassen. Wie sagt der Volksmund so schön: Der Fisch stinkt vom Kopf. Wenn Werte nicht einmal von den selbst ernannten Fackelträgern und Leuchttürmen von Demokratie und Menschenrechten universell angewendet werden, sondern opportunistisch und im Eigeninteresse, warum sollten wir uns daran halten?
Sicherlich sollten in jedem Einzelfall die Reaktionen auf Verbrechen von Staaten sorgfältig abgewogen werden, auch in Hinsicht auf die Folgen. Das gilt für Russland, das gilt für Saudi-Arabien. Wenn ähnlich gelagerte Fälle aber derart entgegengesetzte Antworten des Westens nach sich ziehen – einmal kompromissloses Bestrafen bis zum bitteren, nuklearen Showdown, das andere Mal opportunistisches Belohnen des Aggressors –, dann liegt das nicht an unterschiedlichen Sachlagen, die abgewogen werden müssten, sondern an der Abwesenheit eines wertebasierten Maßstabs in internationalen Beziehungen an sich – die der Westen aber wie eine rote Krawatte vor sich herträgt.
Darum sind Vergleiche wie zwischen dem Verhalten von Russland und Saudi-Arabien nicht nur statthaft, sondern notwendig und wichtig. Sie zwingen uns, auf Fairness im außenpolitischen Handeln und gleiche Standards zu insistieren, um nicht das ganze Wertesystem zur Farce werden zu lassen – mit allen gefährlichen Konsequenzen, die das in sich birgt.
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