Warum wir das bedingungslose Grundeinkommen brauchen

Seite 2: "Unproduktive Tätigkeiten": Wenn alle nur noch malen

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Gegner des BGE argumentieren zuweilen mit dem "Hobby-Argument": Wenn Menschen mit Grundeinkommen nicht nur bei Bier und Chips vor der Glotze hocken, dann werden sie es als Chance verstehen, sich fortan allem möglichen "unproduktiven" Unsinn zu widmen.

Deutschland würde zum Land der Häkelgruppen, Seidenmalerei-Kurse und Ayurveda-Workshops verkommen. Millionen volkswirtschaftlich überzähliger Geisteswissenschaftler würden nur noch Gedichte schreiben, abseitige Blogs betreiben, Verkrachte Künstler, Schauspieler und Musiker ohne jede Aussicht auf Verkäufe oder Engagements würden ihre Jobs als Taxifahrer oder Kellnerinnen hinschmeißen - und noch mehr miserable Bilder malen, auf Straßen und in Gaststätten herumlärmen oder in Hinterhöfen seltsame Experimentaltheater eröffnen.

Mag alles sein. Na und? Zum Häkeln braucht es Nadeln und Garn. Deren Verkauf schafft Arbeit und Einkommen. Wer zehn Ayurveda-Kurse besucht hat, kommt unter Umständen auf die Idee, selbst Ayurvedalehrer zu werden. Ist das kein Beruf? Oder gar unproduktiver als das Anbieten von Zahnzusatzversicherungen in Callcentern? Womöglich hätte Kafka in seinem kurzen Leben der Weltliteratur fünf weitere Romane geschenkt, wenn er nicht 14 Jahre bei der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt hätte arbeiten müssen.

Umgekehrt: Wie lange würde jemand wirklich ausschließlich Bilder malen, die selbst geschenkt keiner von ihm haben will? Sicher ist eins: Wer gegen Ende der Schulzeit seine Liebe zu Programmiersprachen oder zum Maschinenbau entdeckt hat, den wird die Aussicht auf ein Grundeinkommen kaum zur Lyrik verleiten.

Vom "Verschwinden" der Arbeit

Im Grunde war die Wirtschaft schon immer dadurch getrieben, Arbeit zu erleichtern, sie geschickter, schlauer oder ressourcensparender zu organisieren - oder sie statt von Menschen von Naturkräften, Tieren oder der Technik erledigen zu lassen. Die kapitalistische Marktwirtschaft hat das Ersetzen menschlicher Arbeit durch Maschinenarbeit zu einem ihrer Prinzipien gemacht. Rationalisierung bedeutet seit Beginn des 18. Jahrhunderts: konsequente und immer raschere Abschaffung der "einfachen" Arbeit.

Zurzeit läuft dieses Spiel unter dem Stichwort "Industrie 4.0". Nachdem Maschinen in den letzten 300 Jahren immer mehr Arbeitsschritte vom Menschen übernommen haben, sollen die Maschinen der nächsten Generation nun auch immer weniger von Menschen bedient, gesteuert und kontrolliert werden. Das übernehmen Computer und Software, also digitale Maschinen ...

Wie viele Arbeitsplätze im Zuge der nächsten Runde der "digitalen Revolution" wegfallen werden, wie viele neue für immer besser Ausgebildete entstehen, zu all diesen Fragen jagen sich die Prognosen und Studien derzeit im Wochenrhythmus ...

Ein Platz auf der Reservebank

Mehr Werte schaffen und deutlich weniger dafür arbeiten. Hätte man das Adam, Eva und ihren unmittelbaren Nachkommen erzählt, dann hätten sie darin die denkbar größte historische Ironie Gottes erkannt:

"Ein paar Tausend Jahre lang verdient ihr euer karges Brot im Schweiße eures Angesichts. Dann findet ihr endlich den Hintereingang zum Paradies - und jammert über das Verschwinden der Arbeit! Geht’s noch?"

All das wäre denn auch kein sonderliches Problem, wenn die Fortschritte bei der Produktivität und die Entwicklung der Einkommen halbwegs miteinander im Einklang stünden: Während die Produktivität je geleisteter Arbeitsstunde seit 1991 enorm zulegte, stagnierten die Nettolöhne nahezu. Vor allem deswegen, weil sich der Arbeitsmarkt immer stärker gespalten hat. Im industriellen Sektor geht der Bedarf an Arbeitsleistung im Zuge der technologischen Entwicklung und des Produktivitätsfortschritts eher zurück, die Wertschöpfung dagegen durch die Decke.

Im Bereich der Dienstleistungen, wo es bei Lichte besehen oft wenig bis nichts zu rationalisieren gibt (beste Beispiele: Pflege, Gastronomie, Kultur), kommt dieser Fortschritt dagegen in Gestalt von prekären Beschäftigungen und stagnierenden bis sinkenden Einkommen daher. Ein BGE wäre ein Beitrag dazu, den praktisch kaum einholbaren Vorsprung der Maschinenarbeit zugunsten dessen einzuebnen, was ich immer "Arbeit am Menschen" nenne.

Der stärkste Druck in Richtung BGE dürfte am Ende aber wohl vom Ende fast aller kontinuierlichen Erwerbsbiografien kommen. Im gleichen Unternehmen von der Lehre bis zur Rente arbeitet heute kaum noch jemand. Froh kann schon sein, wer mit 55 Jahren noch die gleiche Berufsbezeichnung führt wie in jüngeren Jahren.

Ständige Weiterbildung, gelegentliche Neuqualifikation, hin und wieder auch eine komplette berufliche Umorientierung sind von der Ausnahme zur Regel geworden. Beruf, Familie und biografische Sinnfindung für alle, für Männer wie Frauen gleichermaßen, unter ein und denselben Hut zu bringen, dafür braucht es immer öfter Auszeiten. Etwas plakativ formuliert: Im Spiel namens Kapitalismus 4.0 steht kaum noch jemand 90 Minuten auf dem Rasen. Ein Grundeinkommen wäre so gesehen nichts anderes als jene Reservebank, auf der heute selbst bei Vereinen der zweiten Reihe Spitzenspieler sitzen.

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