Was Hirnchen nicht lernt . . .

Bild: UC Regents Davis campus - brainmaps.org/CC-BY-SA-3.0

Phasenweise öffnen sich neuronale Systeme für Erfahrungen, und dann verschließen sie sich wieder. Doch nicht unwiederbringlich

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Dass es mit steigendem Alter nicht einfacher wird, etwas Neues zu lernen, weiß der Volksmund seit langem: "Was Hänschen nicht lernt . . ." und so weiter. Vielleicht als Erster wissenschaftlich an einem Modell beschrieben hat es Konrad Lorenz, als er die Nachlaufprägung von Hühner- und Entenvögeln untersuchte. Indem die Küken dem ersten sich bewegenden Objekt hinterherlaufen, das sie erblicken, schreibt sich das Bild des zu verfolgenden Objektes tief in ihre Neuronen ein wie mit einem Meißel in Marmor, und sie werden dieses Objekt fortan gegenüber jeder Alternative bevorzugen. Wenn sie Glück haben, ist es ihre Mutter. Wenn sie Pech haben, ist es ein Ball an einem Steg, den ein Verhaltensforscher dreht.

Oder ein Paar Gummistiefel: Lorenz machte sich diesen raschen, irreversiblen Lernvorgang zunutze, um mit seinen Gänseküken spazieren zu gehen. Er erforschte aber auch, in welchem Alter sich die Bevorzugung des verfolgten Objekts am stärksten ein- und ausprägte. So entdeckte er die erste "kritische Phase", welche für die Nachlaufprägung ungefähr um die zwölfte Lebensstunde anhebt und schon zwanzig Stunden später wieder schließt.

Lernpsychologen und Neurobiologen fanden in den folgenden Jahrzehnten viele weitere solcher kritischen Phasen. Handfest erlebt hat jeder von uns die kritische Phase für das Sprachenlernen: Die Muttersprache flog uns noch mühelos zu, aber als es in der Schule ans Englische ging (vom Lateinischen und Französischen ganz zu schweigen), war Perfektion nicht mehr erreichbar, und Russisch im Erwachsenenalter ist vorwiegend frustrierend. Tatsächlich bestätigt die Forschung, dass Migranten, die nach dem siebten Lebensjahr in ein fremdes Land kommen, die dortige Sprache nicht mehr auf muttersprachlichem Niveau erlernen werden.

Solche kritischen Phasen sind nicht bloß nützlich oder hinderlich - je nachdem, ob man gerade darin ist -, sie sind auch eine Art faszinierendes natürliches Experiment: Innerhalb des strukturell schon weitgehend etablierten Nervensystems schaltet die Natur vorübergehend die Lernfähigkeit an, und dann schaltet sie diese wieder aus. Wenn man verstehen will, wie Nervensysteme lernen, dann braucht man "nur" zu verstehen, was die Natur da macht.

Augendominanzplastizität als Beispiel der Plastizität

Die Neurowissenschaften haben sich dazu auf noch einen ganz anderen Lernvorgang gestürzt, den die Nobelpreisträger David Hubel und Torsten Wiesel entdeckten: die Augendominanzplastizität.

Was ist das? Dass wir dreidimensional sehen können, verdanken wir der Tatsache, dass wir dieselbe Szene mit beiden Augen aus leicht unterschiedlichen Perspektiven sehen. Die neuronalen Repräsentationen der beiden Abbilder laufen in der Sehrinde zusammen, so dass dort die Unterschiede berechnet und für die dreidimensionale Darstellung verwendet werden können. Ein Teil der Sehrinde im hintersten Bereich der Großhirnhemisphären bekommt also Eingänge von beiden Augen. Bei Menschen und Katzen ist dieser Anteil sehr groß, weil dank der frontalen Sicht die Gesichtsfelder der beiden Augen weitgehend überlappen. Bei Mäusen und Ratten ist der Anteil recht klein, weil sie weite Teile dessen, was seitlich ist, nur mit einem Auge sehen können.

Nun kann man mit verschiedenen Methoden messen, wie stark jedes Auge den gemeinsamen Teil der Sehrinde anregen kann. Das Ergebnis der Messungen ist die Augendominanz: Wie relativ stark aktivieren die beiden Augen die Sehrinde. Bei Menschen und Katzen ist das Verhältnis etwa 1:1, bei Nagetieren etwa 70:30. Das jeder Hirnhälfte gegenüberliegende Auge ist hier also immer doppelt so stark wie das gleichseitige.

Das kann man aber ändern. Dazu braucht man noch nicht einmal Neurowissenschaftler; auch das tut die Natur alle Tage: Wenn eines der beiden Augen sehr viel schlechter sieht als das andere, wenn es durch ein hängendes Lid verdeckt ist oder schielt, dann merkt das Gehirn, dass mit der Information von diesem Auge nichts anzufangen ist und schaltet es ab. Das Ergebnis ist die häufigste ophthalmologische Erkrankung (ca. 5% der Bevölkerung): eine Amblyopie. Auf dem abgeschalteten Auge ist der Betroffene dann blind, und zwar wahrscheinlich zeitlebens.

Wichtig zu erinnern ist dabei, dass das Auge u.U. völlig intakt ist. Aber wenn man die Fehlsichtigkeit, das Schielen oder das Augenlid zu spät korrigiert, nämlich nach dem siebten Lebensjahr, dann "beschließt" das Gehirn, dass von diesem Auge nichts Nützliches mehr kommen wird. Dann ist die kritische Phase zu Ende.

Hubel und Wiesel erreichten bei Katzen dasselbe, indem sie die Lider eines Auges vorübergehend verschlossen. Sie taten dies bei Katzen unterschiedlichen Alters und entdeckten so, dass es auch hier eine klar definierte kritische Phase gibt: Verschließt man das Auge am Ende des ersten Lebensmonats, dann genügen schon wenige Tage, damit das Auge lebenslang blind bleibt. Später hingegen kann man es jahrelang verschließen, ohne Wirkung.

Gegenüber der Nachlaufprägung oder dem Sprachenlernen hat diese kritische Phase etliche Vorteile: Ihr Ergebnis ist leicht quantifizierbar, das betroffene neuronale System (die Sehrinde) ist bekannt, es lässt sich mühelos reizen und liegt leicht zugänglich gleich oben unterm Schädeldach, man kann es an Säugetieren untersuchen, aber es brauchen nicht Menschen zu sein. Darum ist bis heute weitgehend unklar, wie die Nachlaufprägung ins Kükenhirn eingebrannt wird oder wie Kleinkinder Sprachen aufsaugen. Aber wir wissen sehr viel darüber, wie die kritische Phase der Augendominanzplastizität funktioniert. Und können hoffen, dass die dort entdeckten Mechanismen auch für andere Lernformen gelten.

Neuronale Hemmung ist wichtig für die Plastizität des Gehirns

Und dass das, was bei Mäusen darüber herausgefunden wurde, auch für Katzen und Menschen stimmt. Denn da Mäuse Manipulationsmöglichkeiten eröffnen, von denen man bei jedem anderen Tier nur träumen kann, sind die neuronalen Regler der Augendominanzplastizität bei ihnen am besten erforscht. Überraschenderweise spielt neuronale Hemmung dabei die zentrale Rolle. Die Hirnrinde enthält nur etwa 10-20% hemmende Nervenzellen. Diese aber sind für die Funktion der erregenden Mehrheit enorm wichtig. Nicht nur verhindern sie ein epileptisches Sich-Aufschaukeln der neuronalen Erregung, sie schärfen auch die Antwortgenauigkeit der erregenden Zellen - und sie regulieren die Lernfähigkeit.

Takao Hensch konnte 1998 zeigen, dass gentechnisch manipulierte Mäuse, die etwas weniger vom hemmenden Neurotransmitter GABA synthetisieren als normale Tiere, nie in die kritische Phase für Augendominanzplastizität eintreten. Verabreichte Hensch jedoch das Benzodiazepin Diazepam, welches die Hemmung verstärkt, dann schaltete er damit die Plastizität ein - in jedem beliebigen Alter.

Einige Jahre später klärte Hensch auch, was den Anstieg der Hemmung normalerweise veranlasst: Wenn Mäuse etwa fünfzehn Tage nach der Geburt ihre Augen öffnen und damit erstmals dem Licht aussetzen, fängt ein Protein namens Otx2, das in den Netzhäuten hergestellt wird, an, die Sehbahn entlang zu wandern. An der Umschaltstelle im Thalamus springt es auf die nachgeschaltete Nervenzelle über und erreicht schließlich die Sehrinde, wo es von einer bestimmten Klasse hemmender Neuronen aufgenommen wird. Diese reifen aus, und damit beginnt die kritische Phase.

Auf welche Weise die anwachsende Hemmung dafür sorgt, dass die Hirnrinde offen wird für Veränderungen, ist noch bemerkenswert unklar. Die verantwortlichen hemmenden Neuronen sind untereinander verbunden und vermögen die Aktivität der Hirnrinde sehr stark zu rhythmisieren - vielleicht schärfen sie damit engere Aktivitätsfenster, in denen synaptische Lernvorgänge stattfinden können. Oder die steigende Hemmung bringt die erregenden Eingänge von den Augen dazu, ihrerseits stärker zu wachsen, um das Gleichgewicht zu wahren. Noch sind mehrere Ideen in der Diskussion.

Zuviel des Guten ist zu viel

Auffallend an kritischen Phasen ist aber oft weniger, dass sie sich öffnen, als vielmehr, dass sie sich auch wieder schließen. Nachlaufprägen, Sprachen lernen, Fahrradfahren lernen, ein amblyopes Auge heilen: Irgendwann geht es nicht mehr (so gut). Und dabei wäre es oft doch so praktisch, wenn es noch ginge!

Daher sind in den letzten Jahren, wieder am Beispiel der Augendominanzplastizität, zahlreiche Interventionen entdeckt worden, welche auch die erwachsene Sehrinde wieder offen für Veränderungen machen. Insbesondere die Arbeitsgruppe von Lamberto Maffei aus Pisa hat sich damit hervorgetan und eine Zeitlang in so dichter Folge neue Methoden zur Wiederherstellung der Plastizität veröffentlicht, dass es nur eine Frage der Zeit schien, bis auch Ananassaft und Mozart auf der Liste auftauchten. Eine reizreiche Umwelt, Antidepressiva, Fasten, Stresshormone, körperliche Bewegung, visuelle Stimulierung sowie Auflösung perineuronaler Netze und Histondeazetylierung hat Maffei auf die Liste gesetzt, und andere Autoren haben noch zehn Tage im Dunkeln und soziale Erfahrung hinzugefügt.

Angesichts dieser Vielfalt stellt sich die Frage nach dem gemeinsamen Nenner. Und wieder scheint es neuronale Hemmung zu sein. Für die meisten ihrer systemischen Eingriffe konnten Maffei und seine Mitarbeiter zeigen, dass sie die Konzentration des hemmenden Botenstoffs GABA in der Sehrinde verringerten, und dass die plastizitätsinduzierende Wirkung unterblieb, wenn sie den Tieren gleichzeitig Diazepam gaben (und damit die Hemmung verstärkten). Das bedeutet, dass die neuronale Hemmung über die kritische Phase hinweg weiter ansteigt, bis sie eine zweite Schwelle übersteigt, jenseits von der keine Lernfähigkeit mehr möglich ist.

Um diesen Gedanken direkt zu überprüfen, tat die Arbeitsgruppe das Naheliegende und verringerte die GABA-Herstellung in der Sehrinde direkt, und tatsächlich: Die Ratten wurden wieder plastisch.

Es bleiben dabei einige Seltsamkeiten: Um die erwachsenen Tiere wieder plastisch zu machen, wurde die Hemmung bis kurz über die Schwelle zur Epilepsie verringert. Warum zuckt dann das Gehirn von jungen, noch nicht plastischen Tieren nicht in einem ständigen epileptischen Anfall, wenn es doch noch weniger Hemmung hat? Und warum erreicht man erhöhte Plastizität auch, indem man zusätzliche hemmende Nervenzellen in die Sehrinde transplantiert?

Es ist auch zweifelhaft, ob sich alle Maßnahmen zur Heilung einer Amblyopie geradewegs auf den Menschen übertragen lassen. Eine reizreiche Umwelt, visuelle Stimulation und körperliche Bewegung sind bei vielen Menschen gegeben und scheinen dennoch nicht dazu zu führen, dass abgeschaltete Augen vom Gehirn wieder genutzt werden. Andere Eingriffe, wie die Injektion von embryonalen Zellen oder Enzymen direkt in die Sehrinde oder die vierwöchige Behandlung mit Antidepressiva (bei seelischer Gesundheit) sind ethisch oder praktisch nicht machbar. Und doch gibt es mittlerweile auch Hinweise, dass es möglich ist, die Formbarkeit der Sehrinde zur Heilung einer Amblyopie zu reaktivieren, etwa durch intensives Sehtraining. Wobei solches Sehtraining durchaus auf unterhaltsame Weise geboten werden kann: Das Spielen von Videospielen bei abgeklebtem gutem Auge verbessert die Sehfähigkeit des offenen, fehlsichtigen Auges enorm.

Takao Hensch hat vor einigen Jahren gezeigt, dass eine kritische Phase für die Musikpräferenz von Mäusen vermutlich ähnlich geregelt wird wie die kritische Phase für Augendominanzplastizität. Und obgleich sich erstaunlich wenige Forscher an die neuronalen Grundlagen der Nachlaufprägung herantrauen, gibt es Hinweise, dass auch da hemmende Neuronen eine Rolle spielen.

Vielleicht gelingt es also eines Tages, allgemeine Mechanismen zu finden, wie sich die Lernfähigkeit bestimmter Teilsysteme des Gehirns gezielt wieder anschalten lässt. Dann könnte man im fortgeschrittenen Alter noch sinnvoll anfangen, Russisch zu lernen.