Was Ketchup und Inflation unterscheidet

Seite 2: Angebotsinflation wird mit Einkommenspolitik bekämpft

Die Schulden in der Eurozone werden stetig zurückgeführt. Im Deutschland der Neunzigerjahre wurden für den Schuldendienst wegen der Kosten der Wiedervereinigung noch rund 16 Prozent des Bundeshaltes aufgewendet, was die staatliche Handlungsfähigkeit natürlich einschränkte. Jetzt sind es nur noch vier bis fünf Prozent. Der Steuerzahler stellt mit diesem Betrag finanzielle Sicherheiten für Versicherungsgesellschaften und Geschäftsbanken zur Verfügung.

Die Schuldenrückführung anderer Länder der Eurozone waren allerdings noch weit heroischere Kraftakte.

Eingefordert wurde sie auch aufgrund eines Wissenschaftsskandals. Die beiden in Harvard lehrenden Ökonomen Prof. Carmen Reinhart und Prof. Kenneth Rogoff hatten 2010 eine Studie veröffentlicht, in der sie behaupteten, dass bei einer Staatsschuldenquote oberhalb von 90 Prozent der wirtschaftliche Kollaps drohe.

Als zwei Jahre später der Student Thomas Herndon für eine Übungsaufgabe den Gedankengang nachvollziehen sollte, fand er heraus, dass der gesamte Zauber lediglich auf einer fehlerhaft verknüpften Excel-Tabelle beruhte. Überdies waren selbst die empirischen Daten manipulativ ausgewählt.

Die monetaristische Studie im Geiste Milton Friedmans führte zu millionenfachem Leid, zum Zusammenbruch zahlloser Existenzen, zu einer Suizidwelle, zu Massenarbeitslosigkeit, Sozialstaatsabbau und dem Ruin von Rentnern, schließlich zum Ramschverkauf staatlichen Vermögens unter Wert.

All das geschah, um Staatsschulden nicht über jene magische Schwelle steigen zu lassen, beziehungsweise um sie auf unter 90 Prozent zurückzudrängen.

Mit Misstrauen sollte mensch ebenso manchen ökonomischen Behauptungen zur Ursache des aktuellen Preisschubs begegnen. Die Journaille greift nur allzu gerne auf, dass die EZB-Präsidentin in Frankfurter Bankerkreisen nun angeblich "Madame Inflation" genannt werde, ohne zu hinterfragen, ob mit diesem Framing tatsächlich das Gemeinwohlinteresse oder doch eher Geschäftsinteresse befördert werden soll. Aber Goldhändler wie Polleit und Banker haben handfeste Gründe, der EZB Steine in den Weg zu legen.

Ein weiterer Vorschlag neben Leitzinserhöhung und dem bereits beschlossenem Ende der Kaufprogramme, der öfters gehört wird, möchte zumindest die gestiegenen Kosten der Brennstoffe wieder einfangen, indem Energiesteuern gesenkt werden.

Das gleicht dem Vorhaben, einen bissigen Köter zu verscheuchen, indem man ihn mit Würsten bewirft. Preissenkungen durch die Erzeuger sind so kaum erzielbar, wohl aber motiviert es jene zu weiteren Aufschlägen.

Jedenfalls geht das aber schon eher in eine richtige Richtung, denn eine Angebotsinflation muss mit Einkommenspolitik bekämpft werden. Um den Einstieg in eine Lohn-Preis-Spirale zu vermeiden, die die Entwicklung anheizt, ist eine Umverteilung der Kaufkraft geboten, die insgesamt ja nicht ausgeweitet werden soll, um keine Nachfrageinflation draufzusatteln.

Eine Angebotsinflation hat das Potenzial, eine Nachfrageinflation zusätzlich auszulösen. So geschah dies in der Folge der Ölpreiskrise von 1973, als nach den massiven Erhöhungen des Ölpreises zu hohe Lohnausgleiche von den Gewerkschaften durchgesetzt wurden.

Damit war das Ende eines längeren Booms besiegelt. Noch von 1967 bis 1973 wurden "Konjunkturdämpfungsabgaben" einbehalten, also Steuern nur teilweise wieder ausgeschüttet, um ein Überhitzen der Wirtschaft zu vermeiden.

Inflation trifft nicht jeden gleichermaßen. Soll vermieden werden, die Lawine loszutreten, ist eine Umverteilung von Kaufkraft auch deshalb angebracht, weil in unteren Lohngruppen die Sparneigung gering ist – dort meist gar nicht gespart werden kann. Wenn an diesem Ende unterstützt wird, bleiben inflationsbedingte Lohnforderungen aus.

In höheren Einkommensgruppen wird bei Belastungen zunächst weniger gespart, bevor es zu Konsumeinschränkungen kommt. Daher müssten Umverteilungen noch nicht einmal aufkommensneutral sein. Eine solche Einkommenspolitik konnte die SPD im Koalitionsvertrag, der natürlich nichts mit Inflationsbekämpfung zu tun hatte, gegenüber der FDP nicht umsetzen. Gerade jetzt wäre sie angeraten.

Die Erhöhung des Mindeststundenlohns auf zwölf Euro ist aus diesem Blickwinkel gesehen ein Schritt in die richtige Richtung, nicht ein Schritt in Richtung Lohn-Preis-Spirale. Wie ist es überhaupt in Deutschland um die berüchtigte Lohn-Preis-Spirale bestellt?

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Gewerkschaften nimmt die Situation gelassen. Hier wird gegen Jahresende die effektive jährliche Inflationsrate eher gering eingeschätzt, nämlich auf 3,1 Prozent, also rund einen Prozentpunkt über der Marke der Zielinflation.

2021 stiegen die Löhne um 1,7 Prozent, sodass eine negative Reallohnrunde eingelegt wurde, und in vielen Tarifabschlüssen wurden steuerbefreite Corona-Prämien für das laufende Jahr vereinbart, die in dieser Quote bereits eingerechnet sind. Deutschlands Gewerkschaften verhalten sich gewohnt flexibel und korporatistisch im Sinne unserer Sozialpartnerschaft.

Überhaupt ist die EU mit ihren automatischen Stabilisatoren, die aus ihren umlagefinanzierten Sozialsystemen resultieren, doch um einiges besser für Krisen gerüstet als die USA. Der weitere Ausbau der Sozialsysteme hin zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung sollte uns daher am ehesten die Lehre aus der Coronakrise sein.

In Gewerkschaftskreisen wird auch nicht wie von Sinn eine nachfrageseitige Überhitzung der Wirtschaft angesichts einer Versiebenfachung der nicht nachfragewirksam werdenden Zentralbankgeldmenge gesehen. Eher wird dort auf die mit durchschnittlich sieben Prozent viel zu hohe Arbeitslosigkeit geschaut, die in der Eurozone herrscht.

Derzeit beruhigt sich die Lage. Der Ölpreis fällt innerhalb kurzer Zeit dramatisch von 80 auf 60 US-Dollar pro Barrel, ähnliches gilt für Erdgas, was wohl eher als Folge von Terminkontrakten plausibel ist, als auf eine erfolgreiche Opec+Russland-Strategie hindeutet. Auch andere Preise brachen seit November angesichts von Omikron wieder ein. Der gesamte Spuk sollte sich als ein Sturm im Wasserglas erweisen.

Und in den USA, wo gerade Präsident Bidens ambitioniertes "Build Back Better"-Programm am Widerstand zweier demokratischer Senator:innen scheitert, weist der Ex-Arbeitsminister unter Bill Clinton und heutige Politaktivist Prof. Robert Reich darauf hin, dass die US-Arbeitslosigkeit immer noch um vier Millionen über der vor Corona liegt, und die Preissteigerungen durch Gewinnmitnahmen von Unternehmen beim erwartbarem Boost nach Corona verursacht wurden. Er kritisiert damit die Entscheidungen der Fed.

Das Auslaufen des Pepp droht nun leider die Konjunktur, so sie sich nach Corona erholt, wieder abzuwürgen. Im schlimmsten Fall haben wir damit bald beides: Eine Inflation, die gekommen ist, um zu bleiben, und Stagnation – kurz gesagt: Stagflation. Die Inflationsbekämpfung, die von so vielen befürwortet wird, kann sich als ein böser Bumerang erweisen.

Dann würde sich in der Tat ein Henne/Ei-Problem stellen: waren es nun eher die Unkenrufe der Inflationshypochonder oder vielleicht doch die vermaledeite Geldpolitik, die ins Unglück führten?