Was Solidarität angesichts des nahenden Gasnotstands bedeutet

Seite 2: Wem schaden die Russland-Sanktionen?

Die größten Importeure russischer Energieträger seien nach wie vor China (mit 12,6 Milliarden Euro in den ersten 100 Tagen des Kriegs), Deutschland (12,1 Milliarden Euro) und Italien (7,8 Milliarden Euro), heißt es in dieser Quelle weiter.

Viertens könne bei einem Totalausfall russischer Gaslieferungen die deutsche Wirtschaftsleistung in den Wintermonaten um einen zweistelligen Prozentwert abstürzen, wie der Deutsche Industrie- und Handelskammertag warnt.

Die vom Bund bereitgestellten 15 Milliarden Euro könnten nicht ausreichen, um Gas einzukaufen, um die gesetzlichen Speicherziele für den Oktober und den November zu erreichen, merkt indes die Bundesnetzagentur an.

Und Gas-Großimporteure wie Uniper werden wohl durch Staatshilfen, also letztlich von der Gesellschaft, gerettet werden. Kurzarbeit oder Erwerbslosigkeit drohen hochzuschnellen, viele drohen weiter zu verarmen, der soziale Frieden, der heute noch so friedlich ist, wäre bedroht.

Möglicherweise schaden also die Handelsboykotte uns Bürgern mehr als dem russischen Aggressor – auch wenn die EU beharrlich anderer Meinung ist. Daraus ziehen manche den merkwürdigen Schluss, die Bundesregierung sollte den Wirtschaftskrieg intensivieren und "sehr viel schärfere Maßnahmen" anordnen, nämlich einen …

… Rückzug der westlichen Konzerne aus dem russischen Markt: keine Produktion mehr in Russland, kein Export mehr dorthin. Das dürfte die industrieschwache russische Wirtschaft stark treffen.

ISW München

Das Münchner Wirtschaftsinstitut schränkt aber selbst ein, dass das die russische Wirtschaft 
"auf Dauer als Juniorpartner und Rohstofflieferant an China binden" würde.

Was folgt daraus?

Mit Waffenlieferungen und dem Handelsboykott, vor allem aber der Ausbildung ukrainischer Soldaten an westlichen Waffen, wurde Deutschland Kriegspartei. Die Rhetorik ist klar: Scholz zeigt (ein bisschen) "Solidarität mit der Ukraine – so lange, wie es notwendig ist." Doch unklar ist das Kriegsziel, und wie "lange es notwendig ist", und welchen Menschen das nützt.

Klar sind ansonsten nur zwei Dinge: dass Deutschland sich damit fest zur sogenannten "Wertegemeinschaft" unter der Führung der USA bekennt, und dass das bei uns viele teuer zu stehen kommen wird.

Vor allem den Anhängern der Grünen, die sich zu 58 Prozent für einen sofortigen Einfuhrstopp von russischem Erdgas und Öl aussprechen, muss sich die Frage stellen, ob es ihnen das wert ist und sie für die "werteorientierte Außenpolitik" diese sozialen Kosten und diese Militarisierung der Politik mittragen können.

Ist ein Waffenstillstand weltfremd?

Wenn es nur darum gehen würde, einen "Waffenstillstand jetzt" zu erreichen, könnte man den gleichnamigen Appell ernsthaft diskutieren. Hier schlagen Augstein, Kluge, Precht, Welzer, Yogeshwar, Zeh u.v.a. vor:

Der Westen muss sich nach Kräften bemühen, auf die Regierungen Russlands und der Ukraine einzuwirken, die Kampfhandlungen auszusetzen. Wirtschaftliche Sanktionen und militärische Unterstützung müssen in eine politische Strategie eingebunden werden, die auf schrittweise Deeskalation bis hin zum Erreichen einer Waffenruhe gerichtet ist.

Ist das weltfremd? Auch nicht mehr als der sinnlose Handelsboykott. Aber führende Politiker ignorieren diesen Appell weitgehend oder lehnen ihn ohne weitere Argumente ab. Die Grünen reagierten ungehalten auf den neuen offenen Brief deutscher Prominenter, hieß es in einer Agenturmeldung.

Der Grüne Ko-Parteivorsitzende Omid Nouripour sagte demnach "Dieser Aufruf stammt von Menschen, die bequem auf der Couch sitzend, wohl angesichts der verstörenden Bilder aus der Ukraine die Geduld verloren haben." Doch "wer Menschenleben schützen will, muss jetzt der Ukraine beistehen".

Und "beistehen" heißt, sie kämpfen lassen und "Dialog und Härte" (Baerbock) gegenüber Russland und China zeigen. Doch das Problem so einer vermeintlich werteorientierten Außenpolitik "besteht darin, dass sie im Endeffekt dialogunfähig ist, weil sie politische Interessengegensätze in die Sphäre der Moral verschiebt. Interessengegensätze sind prinzipiell lösbar. Moralische Gegensätze zwischen Gut und Böse sind es nicht."

Dagegen ist ein "Waffenstillstand jetzt" populärer, als medial oft dargestellt: 35 Prozent der Mitte Mai repräsentativ befragten Europäer:innen sind für einen schnellen Friedensschluss, auch wenn das Zugeständnisse der Ukraine voraussetzt. Am stärksten wird diese Forderung in Italien (52 Prozent) und Deutschland (49 Prozent) vertreten.

Wenn es im Winter in unseren Wohnungen kalt wird, kann man das Problem vielleicht mit der Ceausescu-Methode lösen: Einfach durch gefälschte Wettermeldungen und manipulierte Thermometer die Temperaturen wärmer machen.