Was Ungarn und Polen fürchten
Man beschimpft sie als Autokraten und Populisten und fordert gar lautstark ihren Rauswurf aus der EU. Dabei wird gern übersehen, dass die Regierungen Polens und Ungarns mit ihrem Veto vitale Interessen ihrer Länder verteidigen - Ein Kommentar
Der vielgepriesene Rechtsstaatsmechanismus der EU stellt für Polen und Ungarn eine Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Grundlagen dar. Um das erkennen zu können, muss man einerseits einen Blick auf seine geplante Funktionsweise richten und zum anderen auf seine möglichen Folgen für die betroffenen Länder.
Wer sich an die Prinzipien halte, habe doch nichts zu befürchten, heißt es in der Debatte gern und mit deutlichem Fingerzeig auf die beiden Verweigerer Orbán und Kascyński. Wir kennen diese Argumentation aus dem Datenschutz: Wer nix unanständiges tut, der könne seine Daten doch bedenkenlos jeder staatlichen Institution für deren hehre Zwecke anvertrauen. Wirklich?
Dabei schwören die Regenten in Warschau und Budapest, sie würden die Werte der Gemeinschaft von Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit strikt wahren und achten. Warum also ihr Veto? Nun, sie fürchten, dass der Mechanismus instrumentalisiert werden könnte. Und diese Befürchtung besteht nicht zu Unrecht. Denn dem Mechanismus mangelt es an objektiven inhaltlichen Kriterien, die man auf jeden Mitgliedsstaat gleichermaßen anlegen könnte. Dafür ist er reich an formellen Voraussetzungen, wie ein Beschluss darüber zustande kommen kann, mit dem man künftig feststellen könnte, dass ein Mitgliedsstaat die Rechtsstaatlichkeit verletze - mit der Folge, dass ihm nach den EU-Verträgen eigentlich zustehende Zahlungen nicht geleistet werden müssen.
Derartige Beschlüsse sollen künftig von einer qualifizierten Mehrheit getroffen werden können. Es kommt also nicht darauf an, was eine Regierung wirklich in Sachen Rechtsstaatlichkeit in ihrem Land unternimmt, sondern ob sie in der Kommission und im Rat genügend Einfluss nehmen kann. Ein Rechtsstaatsverfahren gegen Deutschland etwa dürfte nach diesen rein politischen Kriterien ziemlich ausgeschlossen sein, ein kleines Land wie Ungarn hat dagegen kaum Chancen, sich dagegen zu wehren, dass die großen Nettozahler ihm das Geld verwehren.
Es gab kein einseitiges Interesse an der EU-Mitgliedschaft
In der öffentlichen Debatte in Deutschland wird dabei gern so getan, als säßen die beiden Länder in Brüssel nur am Katzentisch und seien auf die Almosen der reichen Westeuropäer, der je nach Geschmack "geizig" oder "sparsam" genannten Allianz aus Österreich, Dänemark, den Niederlanden und Schweden angewiesen. Aber dem ist nicht so. Wer es nicht glaubt, der schließe kurz die Augen und halte sich vor Augen, wie die EU aussähe, wenn diese beiden Länder nicht Mitglieder wären und welche Entwicklung die Wirtschaft gerade jener "Sparsamen" wohl genommen hätte, wenn Länder wie Ungarn und Polen nicht von 1990 an den Weg in die Union gegangen wären und 2004 mit ihrem Beitritt vollendet hätten.
Es gäbe Grenzkontrollen und vor allem Schutzzölle auf alle Importe, mit denen die beiden Länder ihre weniger wettbewerbsfähige Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz schützen müsste. Polen und Ungarn könnten nicht zu Tausenden in den reichen Ländern den Niedriglohnsektor mit gut ausgebildeten und motivierten Arbeitskräften ausfüllen. Die Altenheime in Österreich und Schweden müssten schließen, die Pflege dort würde sich erheblich verteuern. Die Produktion von Kraftfahrzeugen, die alle großen europäischen Hersteller nebst ihrer gut mitverdienenden Zulieferer etwa aus den Niederlanden mit Vorliebe in die beiden Länder verlagert haben, würde sich erheblich verteuern und es fehlten ihnen zudem wichtige Absatzmärkte, wenn etwa Polen hohe Einfuhrzölle auf Neu- und Gebrauchtwagen erhöbe. Der Polski Fiat könnte da weiterhin im Rennen bleiben.
Es ist also nicht so, dass es ein einseitiges Interesse an der EU-Mitgliedschaft gegeben hätte. Das Interesse der älteren Mitglieder aus dem Westen war mindestens eben so groß, wenn nicht gar größer. Und um den Neulingen all diese Aufgabe nationaler Souveränität schmackhaft zu machen, hat man ihnen Strukturhilfen in erheblichem Umfang vertraglich zugesichert.
Instrumentalisierbarkeit von "Rechtsstaatlichkeitsverfahren"
Diese Zusicherung vertraglicher Leistungen soll nun durch die Hintertür, durch einen so genannten Rechtsstaatsmechanismus, aufgeweicht und von Mehrheitsbeschlüssen abhängig gemacht werden. Die "Sparsamen" könnten sich die Gelder dann unter Vorwänden sparen, sofern sie nur eine Mehrheit zustande bekommen. Da Ungarn und Polen die größten Zahlungsempfänger sind, dürfte es ein leichtes sein, kleinere Nettoempfänger mit zusätzlichen Finanzhilfen von solchen "Rechtsstaatlichkeitsverfahren" gegen andere zu überzeugen. Futterneid ist eine starke Triebfeder. Und die "Sparsamen" könnten dabei eine Menge Geld sparen, worum es ihnen ja ganz unverhohlen geht. Und dabei können sie sich gar noch als vermeintliche Wahrer der gemeinsamen Werte und der Rechtsstaatlichkeit gerieren.
Wieviel man jedem einzelnen EU-Mitgliedsstaat von diesen wohlfeilen Lippenbekenntnissen in Wahrheit abnehmen kann, zeigt sich deutlich bei der Behandlung der Flüchtlinge in Griechenland und der Vertuschung menschenrechtswidriger Frontex-Einsätze. Wo bleibt das Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Griechenland, wo bleiben die beherzten Aktionen der Unionsorgane bis hin zum Parlament gegen die Menschenrechtsverletzungen durch Frontex? Warum macht sich die wackere Truppe sozialdemokratischer und liberaler Abgeordneter um Katarina Barley (SPD) und Sophia in’t Veld (Democraten 66) nicht zu einem Besuch im Hauptquartier der Grenzschutzagentur auf und verfasst darüber einen Bericht? Über vermeintliche Rechtsstaatsverstöße in Polen und Ungarn geht ihnen das immer leicht und locker von der Hand und über die Lippen.
An diesen Beispielen mag man ablesen, wie ernst es den selbst ernannten Grundrechtswahrern, den "Sparsamen" und ihrer Gefolgschaft in der Union mit Rechtsstaatlichkeit und Grundwerten ist. Und das wissen auch die Regierungschefs in Budapest und Warschau ganz genau. Und weil sie wissen, dass es aller Sonntagsreden zum Trotz in Brüssel nie um Grundwerte, dafür stets um viel Geld geht, misstrauen sie dem Getöse von der Rechtsstaatlichkeit und dem geplanten "Mechanismus" abgrundtief. Sie wissen, dass sie sich im Falle seines Beschlusses auf nichts mehr verlassen können, als auf den Geiz der "Sparsamen", die nicht müde sein werden, ihnen mit solchen Rechtsstaatlichkeitsverfahren die eine oder andere Million an Zuschüssen wieder abzunehmen. Und mangels belastbarer Kriterien können sie dem auch wenig entgegensetzen. Denn selbst in vermeintlichen Musterländern kann man Rechtsstaatlichkeitsverletzungen feststellen, wenn man nur gut hinsieht. Dazu muss man sich nur die miese Bilanz Deutschlands bei den Verurteilungen durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof aufgrund mangelnden Schutzes vor überlangen Verfahren ansehen.
Darum reagieren Warschau und Budapest auch nicht auf all die Vorhaltungen aus Brüssel. Denn sie wissen: Was sie auch tun, es wird sich immer etwas finden, womit man ihnen am Geld wird flicken können. Korrekturen der eigenen Rechtspolitik haben wenig Sinn, wenn man befürchten muss, dass sich die "Sparsamen" dann eben ein anderes Feld suchen werden, um ihre rein pekuniären Interessen doch noch durchsetzen zu können. Die vermeintlichen Rechtsstaatswahrer erweisen den Grundwerten geradezu einen Bärendienst, indem sie sie für Geldinteressen missbrauchen.
EU-Finanzen sind kein geeignetes Mittel
Dabei gäbe es genug Anlässe, mit beiden Ländern ernste Worte zu reden etwa über das Selbstbestimmungsrecht von Frauen (Stichwort Abtreibungsverbot) oder über die Rechte von Minderheiten wie Transgendern und Homosexuellen, die die Regierung Orbán mit Hilfe ihrer Parlamentsmehrheit gerade durch ein Gesetz beschnitten hat und das nun sogar in der Verfassung verankern will. Als gäbe es gerade jetzt nichts Wichtigeres als grundgesetzlich vorzuschreiben, dass Väter stets männlich und Mütter stets weiblich zu sein haben und Kinder nur solche Eltern verschiedenen Geschlechts haben dürfen. Über staatliche Medienkontrolle und Disziplinarverfahren gegen Richterinnen, auch darüber wird man reden müssen. Aber ausgerechnet die EU-Finanzen sind kein geeignetes Mittel dafür, zumal die beiden Regenten sich bei vielen dieser Maßnahmen auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung berufen können. Es käme also darauf an, die zivilgesellschaftliche Debatte zu fördern und zwar auf Augenhöhe. Haushaltsverhandlungen sind der falsche Ort dafür.
Und wenn es um mögliche Straftaten gegen den EU-Haushalt ginge, um Veruntreuung von Geldern, die man Ungarn und Polen immer vorhält: Dafür gäbe es andere Mechanismen wie etwa eigene Ermittlungs- und Anklagebefugnisse für eine EU-Behörde, damit Regierungen nicht ihre Staatsanwaltschaften an die Kandare legen und Ermittlungen ins Leere laufen lassen können, wie man es unter anderem Polen und Ungarn vorwirft. Auch gegen diese Erscheinungen und für unvoreingenommene Untersuchungen bietet der geplante Rechtsstaatsmechanismus keinerlei Garantien.
Die beiden Regierungen haben deshalb gar keine andere Wahl, als diesem perfiden Plan ihr Haushaltsveto entgegen zu setzen. Sehr interessant dürfte werden, wie die Bundeskanzlerin während ihrer zweiten und letzten Ratspräsidentschaft diesen handfesten Interessenskonflikt lösen wird.
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