Was bleibt von der großen Empörung?

Demonstration, Puerta del Sol, Madrid, 20. Mai 2011. Bild: Carlos Delgado/CC BY-SA 3.0

Spanien: Zehn Jahre nach Beginn der Bewegung "Empört euch" ist die Jugend weiterhin "ohne Job, Wohnung oder Pension". Wie kann es vorwärtsgehen in einem Land, das den Rückwärtsgang eingelegt hat?

Vor zehn Jahren artikulierte sich am 15. Mai 2011 die Empörten-Bewegung in Spanien erstmals deutlich sichtbar, als zahllose "Indignados" in mehr als 50 Städten gemeinsam auf die Straße gingen. Tausende Empörte waren einem Aufruf gefolgt, um angesichts einer "Zweiparteiendiktatur", einer "PPSOE" (Akronym-Mix aus Volkspartei PP und Sozialdemokarten PSOE) und eine "wahre Demokratie jetzt" zu fordern.

"Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine", wurde skandiert. "Sie repräsentieren uns nicht", wurde an jenem Sonntag kurz vor den Parlamentswahlen auf vielen Straßen in Spanien gerufen und gefordert: "Wählt sie nicht."

Große Demonstrationen waren damals in der Finanzkrise angesichts der Einschnitte ins Sozialsystem und dem Abbau von Rechten keine Seltenheit. Es kam im Jahr zuvor sogar zum Generalstreik gegen eine Arbeitsmarktreform der Sozialdemokraten (PSOE), mit der der Kündigungsschutz massiv beschnitten wurde.

Der Unterschied

Der wesentliche Unterschied zu den vorangegangenen großen Protesten: Die Aktivisten waren nicht dazu bereit, nach dem Protest einfach wieder nach Hause zu gehen, um sich brav vor den Fernseher zu setzen.

Spontan besetzten sie den zentralen Platz in der Hauptstadt Madrid und begannen damit, ein Protestcamp auf dem "Puerta del Sol" zu errichten, der nur noch "Sol" (Sonne) genannt wurde. Das war die Initialzündung für Besetzungen im ganzen Land. Spanien hatte nun seinen Tahrir-Platz und knüpfte an die Revolte in Ägypten an, die die dortige Diktatur gestürzt hatte und zum Ausgangspunkt für weitere Aufstände wurde.

Empört euch!

Die Indignados bezogen sich auf das Büchlein des ehemaligen französischen Résistance-Kämpfers Stéphane Hessel, das damals ein Bestseller war: "Indignez vous!" (Empört euch!). Man wollte das "Regime von 1978" beseitigen, das nach dem Tod des Diktators alles "gut festgezurrt" hatte.

Unter anderem hatte Franco mit König Juan Carlos seinen Nachfolger als Staats- und Militärchef bestimmt. Etliche seiner Minister warfen sich das demokratische Mäntelchen über und gründeten den Vorgänger der Volkspartei (PP), die sich bis heute nicht vom Putsch gegen die Republik und der Diktatur distanziert hat.

Die "Bewegung 15-M" - Jugend ohne Angst

Die "Bewegung 15-M" war eine große Aufwallung dagegen. Es war eine pazifistische, republikanische Rebellion - vor allem der Jugend -, die von der schweren Wirtschaftskrise als Folge der Finanzkrise ab 2008 getrieben wurde. Die war in Spanien besonders heftig, da eine sich lang abzeichnende Immobilienblase krachend geplatzt war - und enorme Verwerfungen zeitigte.

Die Jugend "ohne Job, ohne Wohnung, ohne Pension" verlor schließlich auch die Angst. Angesichts einer Arbeitslosigkeit von jungen Menschen unter 25, die 2011 fast 50 % erreichte, begannen sich viele zu organisieren. Auch gegen dieses Phänomen versuchte die Exekutive, wie in Spanien nicht unüblich, mit Gewalt vorzugehen. Der Versuch, mit einer brutalen Räumung des Sol die Lage schnell wieder unter Kontrolle zu bringen, scheiterte aber an einer wachsenden Empörung. Tausende Menschen besetzen den Platz erneut und sie setzten die Freilassung der Gefangenen durch.

Das Beispiel Sol hatte ohnehin längst Schule gemacht und die "Bewegung 15-M2 hatte sich im ganzen Land ausgebreitet. Massive Repression, wie etwa brutale Räumungen, erreichten auch danach wie in Barcelona ihr Ziel nicht: Nach der Räumung wurde der Plaça de Catalunya einfach wieder eingenommen.

Diese Protestform stieß aber von Anfang an ihre Grenzen. Nach Barcelona wurde am 12. Juni auch der Sol in Madrid und andere Plätze im Land freiwillig geräumt. Im Telepolis-Gespräch erklärten Aktivisten damals, das Protestcamp sei nur "ein Werkzeug, aber kein Selbstzweck" gewesen. Jetzt gehe es darum, sich verstärkt dort betätigen, wo die Probleme offener als in der Innenstadt zu Tage treten: in den Stadtteilen.

Die erste Niederlage

Die erste klare Niederlage war der Wahlausgang. Die musste eingesteckt und verarbeitet werden. Statt der geforderten Wahlenthaltung zu folgen, gingen mehr Wähler an die Urnen: Die Beteiligung stieg an. Eine eigene politische Formation, die den geballten Unmut auf den Straßen ins Parlament hätte tragen können, gab es aber nicht. So wurde der PSOE zwar für ihre erratische Krisenpolitik in der Finanzkrise die rote Karte gezeigt, da sie vor allem Banken statt Menschen gerettet hatte, aber das Land kam vom Regen in die Traufe.

Die PSOE stürzte von fast 40 Prozent auf 28 Prozent ab, womit die Volkspartei (PP) erneut an die Macht kam. Eine kommunistisch dominierte zerstrittene "Vereinte Linke" (IU) konnte vom Unmut kaum profitieren, aber ihr Abstieg wurde aufgehalten. Beim neoliberalen Kurs, zu dem sich die PSOE-Regierung unter Zapatero auch aus Berlin und Brüssel hatte treiben lassen, trat als Wahlsieger der ultrakonservative Mariano Rajoy für seine PP erst so richtig aufs Gaspedal.

Die Korruption, die bisher in PP-Hochburgen wie Valencia Urstände gefeiert hatte, konnte nun fast auf den gesamten spanischen Staat ausgeweitet werden. Ausgebaut wurde ein "effizientes System institutioneller Korruption", wurde zwischenzeitlich schon gerichtsfest festgestellt.

Räumungen

Immer mehr Banken wurden gerettet, die ihre Sparer zum Teil über illegale Machenschaften die Ersparnisse geraubt hatten. Hunderttausende Familien wurden aber oft auch von Banken aus ihren Wohnungen geworfen, die mit vielen Milliarden aus Steuermitteln gerettet worden waren. Allein 2010 wurden fast 250.000 Zwangsvollstreckungsverfahren eingeleitet.

Das waren vier Mal so viele wie 2007 vor der Krise, um von Räumungen wegen nicht gezahlter Mieten gar nicht zu sprechen. Die von der schweren Krise gebeutelten Familien konnten wegen Arbeitslosigkeit ihre Hypotheken oft nicht mehr bedienen - die kurzfristig variablen Zinsen, mit denen die Banken die Risiken fast vollständig auf die Verbraucher abgewälzt hatten, waren explodiert.

Im Jahr 2009 war in Barcelona als Reaktion darauf die Vereinigung der Hypothekengeschädigten (PAH) gegründet worden. Sie schaffte es ab 2010, schon bevor die Empörten-Bewegung offiziell entstanden war, erste Zwangsräumungen zu verhindern.

Als sich die Aktivisten und Aktivistinnen schließlich in die Stadtteile zurückzogen, wurden Basisstrukturen wie die der PAH gestärkt, die sichin ganz Spanien entwickeln konnten. Auf nationaler und internationaler Ebene konnte die PAH große Erfolge erringen. "Es reicht", erklärte zum Beispiel der Europäische Gerichtshof (EuGH) dazu, dass Verbraucherrechte in Spanien mit Füßen getreten wurden, was zu zahllosen illegalen Zwangsräumungen geführt hatte.

Es gelang in einem Staat, der zwar in der Verfassung in Artikel 47 allen eine "würdige Wohnung" garantiert, aber trotz allem Familien ohne Ersatz einfach auf die Straße setzt, der PAH auch, über Besetzungen von leerstehenden Wohnblocks zum Teil deren Obdachlosigkeit zu verhindern.

Erfolge des Drucks von der Straße - "Unidas Podemos"

Durch den massiven Druck der Straße gelang es schließlich nicht nur, dass Räumungen verhindert werden konnten. Wie im Fall von Matías González konnte oft auch durchgesetzt werden, dass Menschen wie er von der Restschuld befreit wurden. Auch das ist eine Besonderheit in Spanien, dass die Familien mit der Übergabe der Wohnungen an die Bank oft auf massiven Schulden sitzen bleiben. Die Bank übernimmt die Wohnung nur zu 50 Prozent der Summe, zu der sie einst auf Veranlassung der Bank geschätzt wurde.

Ein Teil der Aktivisten zog aus den Wahlergebnissen 2011 das Resümee, dass eine Parteigründung und der Marsch durch die Institutionen nötig sei. Es wurden diverse Parteien gegründet, doch Podemos (Wir können es) setzte sich durch und schloss sich schließlich mit der IU zu "Unidas Podemos" (Gemeinsam können wir es) zu einer Linkskoalition zusammen.

Dazu kamen lokale Bürgerkandidaturen wie "Más Madrid" (Mehr Madrid) oder En Comú Podem (Gemeinsam können wir es) wie in Barcelona unter der ehemaligen PAH-Sprecherin Ada Colau, mit denen kooperiert wurde. Zum Teil erreichten sie gute Ergebnisse, Podemos schloss bei den Parlamentswahlen 2016 mit gut 21 Prozent sogar zur PSOE auf. In Madrid wurde Más Madrid stärkste Kraft und Manuela Carmena Bürgermeisterin, wie Colau in Barcelona.

Ernüchterung - der linke Spaltpilz

Doch schon vier Jahre später fiel die Bilanz ernüchternd aus. Madrid fiel vor zwei Jahren wieder an die rechte PP zurück, der linke Spaltpilz wucherte. Podemos war zur Kampfkandidatur gegen die einstigen Verbündeten angetreten und kam nicht in den Stadtrat. Más Madrid wurde zwar erneut stärkste Kraft, aber die Stimmen und die Sitze, die wegen dem Podemos-Fehler fehlten, kosteten Carmena das Amt.

Sie hatte solide regiert und ohne Einschnitte die Schulden der Hauptstadt halbiert. Nur Valencia und Cádiz konnten noch gehalten werden, in beiden Fällen aber von Kandidaten, die längst auf Distanz zur Podemos gegangen sind, die zur Pablo Iglesias-Partei mutiert war.

Zwar konnte sich auch Colau in Barcelona halten, doch sie kann fast als Totalausfall bezeichnet werden. Auch sie hatte massiv Stimmen verloren und wurde von der Republikanischen Linken (ERC) als stärkste Kraft verdrängt. Sie konnte nur weiter im Amt bleiben, weil sie plötzlich gegen alle Versprechen sogar rechts-neoliberale Stimmen annahm.

Versprochen hatte sie, nicht einmal Stimmen der Sozialdemokraten zu akzeptieren. Die spanische Rechte wählte sie, um mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine Partei der Unabhängigkeitsbewegung die katalanische Metropole regiert.

Der Niedergang

Colau steht, wie der Ex-Podemos-Chef Iglesias, für den Niedergang und den Gesichtsverlust des institutionellen Arms der Bewegung, der die Basisdemokratie praktisch ausgeschaltet und die Basisstrukturen auf der Straße deaktiviert hat.

In Barcelona hat das angesichts einer starken Unabhängigkeitsbewegung nur sehr begrenzt funktioniert. Viele ehemalige Kampfgefährtinnen wollen sich dort zu Colau oder Podemos nicht äußern oder bezeichnen Colau (noch) hinter vorgehaltener Hand oft als Verräterin.

Besonders enttäuscht ist man bei der PAH und bei den bis heute starken Initiativen gegen Zwangsräumungen, da gerade eine Colau-Regierung in Barcelona viele Familien in der Coronavirus-Pandemie nun im Regen stehen lässt.

Die Sprecherin der Mietergewerkschaft in Barcelona erwartet von Leuten wie Colau oder Iglesias, der zwischenzeitlich mit Podemos sogar in die spanische Regierung vorgerückt war, praktisch nichts mehr, wie Silvia Abadía gegenüber Telepolis erklärt hatte. Die Enttäuschung sitzt tief auch bei vielen Empörten an der Basis.

Zwangsräumungen wurden auch in der Pandemie nie eingestellt, obwohl die "progressive Regierung" offiziell ein Moratorium verkündet hatte. Das gilt auch in Barcelona unter der ehemaligen Aktivistin gegen Zwangsräumungen Colau.

In den ersten neun Monaten der Pandemie wurden bis Ende 2020 trotz des "Moratoriums" in ganz Spanien mehr als 16.000 Familien auf die Straße gesetzt, die meist ihre Mieten nicht mehr bezahlen konnten. Und dabei wird oft brutalste Gewalt gegen die eingesetzt, die sich dagegen wehren - wie hier in Barcelona gerade wieder.

Obdachlosigkeit

Die Obdachlosigkeit hat auch in Barcelona wieder massiv zugenommen. Sogar Härtefälle lässt die Colau-Regierung im Regen stehen, was deren frühere Unterstützer besonders erzürnt. Erst durch großen Druck der in Katalonien noch immer gut organisierten Aktivisten können Räumungen immer wieder verhindert werden.

Bisweilen können durch Druck auch Lösungen erzwungen werden, damit die Menschen nicht auf der Straße landen, die angesichts eines löchrigen Sozialsystems durch alle Maschen fallen. Sie finden sich dann oft in Hungerschlangen wieder, weil eine Zentralregierung unter Podemos-Beteiligung in Madrid nicht einmal die Maschen deutlich verkleinert hat.

Im Kampf gegen massive Mieterhöhungen, Zwangsräumungen oder gegen die Privatisierung von Wohnungen, zeigen sich Strukturen der Empörten-Bewegung noch deutlich. Das gilt ebenso für die besonders starke feministische Bewegung oder bei Rentnern, die seit mehr fast vier Jahren unermüdlich für würdige Renten auf die Straße gehen.