Was haben Merkel und Hitler gemeinsam?
Die deutsch-polnischen Beziehungen werden durch Vorurteile über den bösen Nachbarn und deren Verstärkung in den Medien aufgeheizt
Die deutsch-polnische politisch-mediale Soap Opera geht in die nächste Runde. Doch das Schmierentheater vernebelt mehr oder weniger absichtlich die wahren Hintergründe eines politischen Machtkampfes. Sensationslüsterne Medien und rechtsnationale Scharfmacher auf beiden Seiten reiben sich die Hände. Doch was hat Kanzlerin Merkel und der ewige Hitler damit zu tun?
Wer "Hitler" sagt, dem hören alle zu, das ist in Polen und in Deutschland nicht anders. Gemeinsam haben Polen und Deutsche noch etwas: Verlage, die ihre Print- und anderen Publikationen losschlagen wollen, sowie rechte Scharfmacher, die keine Gelegenheit auslassen, um in alten Wunden herumzustochern. So dürften oberflächliche Beobachter der polnisch-deutschen Beziehungen dieser Tage mal wieder den Eindruck gewinnen, bald würde erneut "zurückgeschossen". Der mediale Rauch vernebelt auch gehörig die Sicht auf das eigentlich Kernthema der letzten Zeit: die Machtverteilung in der zukünftigen EU.
So haben wir es hier mit der zukünftigen Stimmenverteilung im Rat der Europäischen Union, auch Ministerrat genannt, zu tun. Dieser Rat ist quasi die Regierung Europas, denn dort werden die wichtigen Entscheidungen der Europäischen Union beschlossen. Versucht man sich des Themas von der medial am meisten beleuchteten Seite zu nähern, würde sich der durchschnittliche deutsche Medienkonsument sicher sein: Polen ist EU-Gegner, ein aufgeblasener paranoider Gockel, der die Arbeit der EU behindert. Das ist vor allem von polnischer Blockade-Haltung die Rede.
Die Nachfrage nach Vorurteilen wird bedient
Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs: Die "Berichterstattung" aus Polen scheint zuletzt immer mehr nach einem Schema F abzulaufen und selbst gestandene Publikation rutschen immer mehr in den Boulevard ab. Vorurteile werden ausgeschlachtet, wohl nach dem Motto "Was eh alle denken, das verkauft sich bestimmt gut", machen in den letzten Wochen neben den politischen Katastrophen-Meldungen weitere Schlagzeilen mehr oder weniger direkt Stimmung gegen das Nachbarland.
So machte zuletzt eine Meldung Furore, die Spiegel Online titelte: Polnisches Baby mit 1,2 Promille geboren. Da jauchzt das Herz eines jeden, der schon immer überzeugt war, Polen seien alles unzurechnungsfähige Säufer. Kurz zuvor verkaufte sich einen andere Vorurteile abfeiernde Meldung prächtig: "Polnische Familie klaut Dach vom eigenen Haus." Es wäre natürlich übertrieben, da von absichtlicher Stimmungsmache zu sprechen, denn auch in der Verlagsbranche regiert schließlich der Markt mit Angebot und Nachfrage.
Als Beleg dieser Theorie dürfte die Popularität negativer Polen-Bilder in den "Social Media", also den Web 2.0 Nachrichten-Communities wie dem deutschen Marktführer, wenn auch auf niedrigem Niveau, YiGG.de. Dort werden Nachrichten und Beiträge nach demokratischer Stimmenauszählung auf die Startseite gelangen. So gelangen in den seltensten Fällen dorthin Informationen über Polen. Versöhnliche oder tiefer gehende Artikel bleiben meist auf der Strecke, während die beiden oben erwähnten sich großer Beliebtheit erfreuten. Da interessiert es dann auch wenig, wenn in Deutschland plötzlich im Zuge des hier ebenso verbreiteten Altmetall-Diebstahls ganze Gleisanlagen verschwinden. Selbst wenn diese am anderen Ende der Republik liegen. Wird davon ausgegangen, dass sie in den Osten wandern.
Das Manko ließe sich natürlich mit den Hang solcher Medien zum größten gemeinsamen Nenner erklären, doch die Social Media sind durchaus fähig, brennende politische Themen aufzugreifen und tiefgründig zu behandeln, wenn es etwa um Innenpolitik geht. Prominente und aktive Mitglieder weisen zwar Vorwürfe der Voreingenommenheit gegenüber Polen weit von sich, es werde etwa ebenso "über Schweizer" gelästert, damit ist aber wohl ein Schweizer selbst gemeint der regelmäßig seine satirischen Blog-Beiträge kolportiert.
Wer aber nun meint, damit sei Deutschland allein, der braucht nur nach Polen zu schauen, zum erfolgreichsten YiGG-Äquivalent Wykop.pl. Wykop soll laut Analysten sogar doppelt soviele Besucher haben, obwohl Polen nur halb so viele Einwohner hat wie Deutschland. In den letzten Tagen waren analog dazu besonders erfolgreich ein Beitrag mit dem Titel "[Deutsche] Regierung ermutigt zu Doktorspielen", wonach die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in einer Broschüre dazu auffordere, Väter sollten die Klitoris von Mädchen im Alter bis zu 3 Jahren "liebkosen", um ihre frühe sexuelle Entwicklung zu fördern. Das steht natürlich in der Broschüre so selbst nicht drin, es wurden mehrere Zitate vermengt und falsch übersetzt. Doch solche Übersetzungsfehler häufen sich auf beiden Seiten. Immerhin eine der größten und seriösesten polnischen Tageszeitungen "Rzeczpospolita" war sich nicht zu schade diese Geschichte zu drucken. Da deren Archiv kostenpflichtig ist, verweist Wykop hierbei auf einen Artikel auf Wiara.pl. Wiara heißt soviel wie "Glaube". l Obzwar diese Meldung nicht alle Wykop-Nutzer für echt hielten und nach den Quellen fahndeten, ging eine andere Ente zur gleichen Zeit im "Deutsche haben Sex-Probleme"-Stil ohne Beanstandung durch. Eine falsch übersetzte BILD-Story, ein deutscher Busfahrer hätte einen weiblichen Passagier des Busses verwiesen, weil die 20-jährige Frau "zu sexy" sei, blieb zunächst unwidersprochen. Dabei stand auf dem mitgelieferten Screenshot, sie hätte sich lediglich "umsetzen" müssen.
Auch wenn diese Symptome nicht repräsentativ erscheinen mögen, scheint sich die Linie "Was das Nachbarland verunglimpft oder in schlechtem Licht erscheinen lässt, läuft gut" durchzusetzen. Es fällt zunehmend schwerer in deutschen Medien gut recherchierte Beiträge oder gar positive über Polen zu finden, doch es gibt sie. Und es gibt auch Themen aus Polen jenseits "Raketenschild", unterstellter "EU-Feindlichkeit" und "Homophobie". So werden in Polen erstmals wieder deutsche Ortsschilder zugelassen, d.h. Orte mit einer großen Anzahl an deutschstämmigen Einwohnern dürfen ähnlich den Sorben hierzulande neben dem polnischen auch den deutschen Namen von vor 1936 anführen.
Das mag unbedeutend klingen, ist aber für die Polen und für die verbissenen gegenseitigen Beziehungen die eben von Ängsten, Unwissenheit und Vorurteilen geprägt sind, ein kolossaler Schritt, der jedoch kaum Erwähnung findet.
Beschwörung der Vergangenheit
Wer selbst sich noch nicht ganz von der Vergangenheit verabschiedet hat, zieht gerne Nazi-Vergleiche, das bewies nicht zuletzt die Berufsvertriebene Steinbach: "Die Parteien, die in Polen regieren, sind mit den deutschen Parteien Republikaner, DVU und NPD vergleichbar. Da kann man nicht allzu viel erwarten."
Damit lassen sich nicht nur Magazine verkaufen, was Wprost mit einer geschmacklosen Montage der Kanzlerin mit nacktem Oberkörper demonstrierte ("Hände Hoch!"). Wprost überrundete die Polityka zwischenzeitlich als meistverkauftes Wochen-Magazin. Das zeigt nun der wie Steinbach ebenfalls rechtsaußen anzusiedelnde Maciej Giertych mit seinem Merkel-Hitler Vergleich. Giertych ist ein umstrittener Europa-Abgeordneter, der schon mal Spaniens faschistischen Diktator Franco würdigt. Der Name Giertych ist über Polens Grenzen berüchtigt, da sein Sohn Roman Giertych, ein notorischer Hardliner, derzeit Erziehungsminister und Vizepremier der polnischen Koalitionsregierung ist.
Wie zuvor in anderen Positionen bezieht er seine Macht und mediale Präsenz aus populistischen Aktionen und kontroversen Äußerungen, wovon in Deutschland vor allem eben sein Vorgehen gegen "homosexuelle Propaganda" bekannt wurde (Auf zum Kampf gegen "homosexuelle Propaganda"). Die Rechten Polens kämpfen nicht nur gegen Homosexualität, vielmehr ist ihnen Sexualität an sich scheinbar ein Dorn im Auge. Diese erstreckt sich nicht nur von der Aufklärung in der Schule, sondern geht bis zur Negation der Evolutionstheorie (Giertych vs. Darwin). An der Sexualität scheint nur die Vermehrung akzeptabel sein, denn Polen hat mit das schärfste Abtreibungsgesetz in Europa.
Just in der Angst vor der Sexualität treffen sich polnische und deutsche Rechte trotz der scheinbaren Interessenkonflikte: Das oben erwähnte Zitat, nach dem die deutsche Regierung Pädophilie unterstützen würde, ist in der Form, wie es in Polen auftaucht, in Deutschland von der rechtsnationalen "Jungen Freiheit" lanciert worden.
Diese Umwege sollten jedoch nicht den Kontext der jüngsten Äußerungen von Vater Maciej Giertych vergessen lassen. Die Entscheidung über den neuen EU-Vertrag und den dabei erzielten, für Deutschland und Polen akzeptablen Kompromiss zur Stimmengewichtung im Europarat. Auch hier waren die polnische "Diplomatie" und die deutsche Presse nicht gerade hilfreich während der Verhandlungen. So war der polnische Vorstoß, die Kriegstoten mit zu berechnen bei der Stimmenvergabe entsprechend Bevölkerungsanteil, das beherrschende Thema. Zwar ist der gezielte Fauxpas rein rechnerisch gar nicht so abwegig, wie er von den deutschen Medien verrissen wurde. Schließlich hat kein anderes Land im Zweiten Weltkrieg so gelitten wie Polen, mehr als 6 Millionen polnische Staatsbürger, vor allem Zivilisten, mussten ihre Leben lassen. Das war fast jeder fünfte Pole. In Deutschland wird diese Zahl gerne mit den 6 Millionen getöteten Juden vermengt. Doch bei den 6 Millionen Polen sind ca. 3 Millionen polnische Juden einberechnet. Zum Vergleich: Deutschland hatte ca. 5,5 Millionen Tote zu beklagen, wovon ein Großteil Soldaten waren.
Was in den deutschen Medien nicht betont wurde, war die praktische Halbierung der polnischen Stimmkraft und derjenigen Spaniens. Aber auch die kleinen EU-Länder verlieren oder verlören sehr an Einfluss. Die reichen und bevölkerungsstärksten Alt-Mitglieder hätten beim neuen Abstimmverfahren, das kurz "Doppelte Mehrheit" genannt wird, enorm an Macht zugelegt. Zwar verhindert die formale Dopplung der Abstimmung eine reine Durchsetzung der demographisch stärksten EU-Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien, umgekehrt könnten sich die kleineren Länder oder Neu-Mitglieder kaum mit ihren Vorhaben durchsetzen.
Ist die EU deswegen fortan quasi die Fortsetzung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen und des Dritten Reiches unter Hitler, so wie es Maciej Giertych nahe legt? Giertych sagte: "Mit anderen Methoden will sie das gleiche Ziel erreichen." Gemeint ist die Vorherrschaft in Europa, aber, fügte Giertych hinzu: "Merkel ist gerissener als Hitler".
Nein, keineswegs, der erzielte Kompromiss schreibt erst einmal die jetzige Stimmenverteilung bis zu 10 Jahren fest. Damit hat Polen 27 Stimmen, also nur zwei weniger als Deutschland mit 29.
Was hat Frau Merkel nun mit Hitler zu tun?
Weniger als derzeitige polnische Rechte mit ihren Brüdern im Geiste in Deutschland. Populismus und markige Sprüche haben da ihren Boden, wo Ignoranz, Misere, Angst und Verbissenheit herrschen. Oft spielt auch die Abneigung gegen die Gattung Mensch eine Rolle, und sei es nur in ihrer natürlichsten Äußerung, der Sexualität.
Die Gefahr liegt derzeit vor allem darin, dass diese Kreise die Globalisierungsängste weiter Teile der Gesellschaft durch die Ethnisierung sozialer Konflikte zu eskalieren versuchen. Ob der polnische Klempner oder der deutsche Vertriebene, mit beiden lässt sich Angst machen.
Man muss nicht die CDU oder die Kanzlerin mögen, um einen weiteren Vergleich anbringen zu wollen: Verglichen mit dem Kaczynski-Doppelpack ist sie viel mehr "Staatsmann" als die beiden zusammen, denn sie lässt sich weder von der Presse noch von rechten Scharfmachern beirren. Während hier ein schwuler Demonstrant oder ein TAZ-Satiriker zum Eklat genügen, steckt die Kanzlerin wiederholte Angriffe unter der Gürtellinie weg, ohne sich darüber zu echauffieren.
Diese Einstellung würde den meisten Polen und Deutschen gut tun, denn die Medien finden nach wie vor einen fruchtbaren Boden für Vorurteile und Klischees vom bösen Nachbarn. Gerade die Mitte der Gesellschaft hat aber die Wahl, ob sie sich von plumpen Versuchen leiten lässt, den ungeliebten Bruder aus der EU zu verteufeln, oder ob sie Personen, die den Teufel an die Wand malen, nicht ernst nimmt.
Dass die Stimmengewichtung im europäischen Ministerrat keinesfalls nur ein Thema der Rechten oder der manchmal etwas unbeholfenen polnischen Regierung ist, sollte aber ebenso klar sein: Schon 2003 empörte sich der damalige gemäßigte polnische Premier Leszek Miller über den Versuch, Polen gemeinsam mit Spanien im Hinblick auf die Stimmen zu halbieren. Es kann aber nicht im deutschen Interesse sein, ein schwaches Polen zu kultivieren, das womöglich gegenüber den unsicheren Regierungen aus dem Osten an Boden verliert. Ein schwaches Polen bedeutet mehr Auswanderung von dort und noch mehr rechte Scharfmacher zu Hause und hinter der Oder.