Was ist die Wahrheit über die NSU-Morde: Zwei Täter - oder mehr - oder andere?

Seite 2: Zentrale Ermittlungsinstanz kann viele Fragen nicht beantworten

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Der Auftritt Diemers war nur eine weitere Episode. Erneut musste man feststellen, dass die zentrale Ermittlungsinstanz viele Fragen nicht beantworten kann. Warum gibt es in der Habe des Trios jede Menge Ausspähnotizen, aber keine von den Tatorten? Wie kam es zur Auswahl der Tatorte? Warum nimmt jemand die Dienstwaffe einer ermordeten Polizistin mit zu einem Banküberfall? Warum ist die Mordserie zweieinhalb Jahre lang unterbrochen? Warum endet 2006 das Töten mit der Ceska?

Diemer kann diese Fragen alle nicht beantworten. Warum hört das Töten nach 2007 ganz auf? Seine Antwort ist atemberaubend: "Vielleicht gab es, nach dem man so viele Menschenleben auf dem Gewissen hatte, eine Sehnsucht nach einem normalen Leben."

Von Mai 2001 bis März 2008 lebte das Trio in der Polenzstraße in Zwickau. In diesem Zeitraum wurden neun Morde, neun Raubüberfälle und der Nagelbombenanschlag in Köln verübt. Doch die Wohnung in der Polenzstraße wurde nie auf DNA und Fingerabdrücke untersucht. Warum? Diemer: "Das stand nie zu Erwägung." Der Ausschussvorsitzende Clemens Binninger (CDU) erinnerte ihn daran, dass die Karlsruher Behörde auch ganz anders kann: "Hätte man eine konspirative Wohnung der RAF gefunden, hätte man die auseinandergenommen und sogar die Tapeten abgezogen." Wieder ist Diemers Antwort unglaublich: Inzwischen hätten doch andere Leute in der Wohnung gewohnt und die hätten dann ausziehen müssen. Jedenfalls haben sie es "nicht für zielführend" erachtet, es zu tun. Und er halte es immer noch nicht für zielführend.

So ging es weiter. Das ist die Verweigerung von Ermittlungen, die schon Diemers Kollege Jochen Weingarten vor diesem Ausschuss zum Ausdruck brachte. Dahinter verbirgt sich eine Strategie: die des Eingrenzens und Minimierens. Man will keine große Vereinigung aufdecken, sondern hat sich auf ein Trio, eine Kleinstzelle, festgelegt.

Umgang mit der Hauptangeklagten

Dazu passt auch der Umgang mit der Hauptangeklagten. Herbert Diemer selber war es, dem gegenüber Beate Zschäpe, nach dem sie sich am 8. November 2011 nach viertägiger Flucht der Polizei in Jena gestellt hatte und anschließend zur Bundesanwaltschaft nach Karlsruhe geflogen wurde, den Satz gesagt hatte: "Ich habe mich nicht gestellt, um nicht auszusagen." Warum es dann zu dieser Aussage doch nicht kam, konnte Diemer den Abgeordneten nicht plausibel erklären. Gab es zwischen Zschäpes Bereitschaft zu reden und ihrer späteren Weigerung ein "Ereignis"?

"Corelli", "Piatto", "Primus", "Otto", "Tarif" - V-Leute bewegten sich im Umfeld des NSU-Kerntrios. Wie ging die Bundesanwaltschaft (BAW) bei ihren Ermittlungen mit dem Verfassungsschutz und V-Leuten um, die Zeugen, Mitwisser oder mögliche Täter gewesen sein könnten? Diemer: Mit der Übernahme der Ermittlungen kontrollierte seine Behörde auch die Kontakte zu den Geheimdiensten. Anfänglich aus Sorge vor "möglichen Vertuschungen". Offensichtlich spielte der Verfassungsschutz also auch nach Einschätzung der Bundesanwälte im NSU-Komplex eine Rolle. Rücksicht auf V-Leute würde man nicht nehmen und hätte man nicht genommen, so Diemer weiter: "Wenn V-Leute unter den Unterstützern oder Tätern gewesen wären, hätten wir sie genauso vernommen, verhaftet und angeklagt."

Der Ausschuss präsentierte Gegenbeispiele. Der V-Mann Johann H. aus Köln, der vom Amt selber kurze Zeit verdächtigt wurde, mit dem Bombenanschlag in der Probsteigasse zu tun gehabt zu haben, wurde nie vernommen. Selbst sein V-Mann-Führer nicht. Antwort Diemer: Die Betroffenen hätten den V-Mann nicht als den Täter erkannt, deshalb sei man nicht an ihn herangetreten.

Der V-Mann Ralf Marschner hatte nach mehreren Zeugenangaben Kontakt zum Trio. Doch den Ermittlern des BKA, die ihn in der Schweiz aufsuchten, wurde verschwiegen, dass er V-Mann war. Diemers Antwort hörte sich an wie ein Statement: "Wir gingen nicht davon, das waren die Geheimdienste. Wir waren sensibilisiert und wären dem nachgegangen, haben aber keine Erkenntnisse dazu. Es ist nicht so, dass wir mit den Geheimdiensten unter einer Decke stecken. Wir sind eine eigene Behörde."

Keine V-Leute dabei? Neben dem Prozess in München führt die BAW Ermittlungsverfahren gegen neun weitere Beschuldigte. Darunter befindet sich mit Thomas Starke mindestens eine V-Person. Alle weiteren Ermittlungen laufen in einem Sammelverfahren gegen Unbekannt.

Sind weitere Anklagen zu erwarten - oder eher Einstellungen der Verfahren? Diemer ließ die Antwort offen. Anklage erhoben werde, sagte er lediglich allgemein, wenn eine Verurteilung wahrscheinlich sei: "Das klingt blöde, ist unbefriedigend, aber wir könne uns Vorwürfe nicht aus den Fingern saugen." Das lässt eher eine Beendigung der Verfahren erwarten, als ihre Fortsetzung vor Gericht.