Was könnte das sein, ein nicht-faschistischer Bürger?
Seite 2: Die Utopie eines nicht-faschistischen Bürgers
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- Die Verhältnisse: Voraussetzung der Demokratie
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Was könnte das sein, ein nicht-faschistischer Bürger? Die entscheidende Frage lautet: Wie werden Verdrängung und Triebverzicht im Subjekt durchgesetzt? Ohne sie ist laut Freud keine Kultur möglich - mit ihnen mitunter allerdings auch nicht.
Wird Triebverzicht gewaltsam erzwungen, wie es "schwarze Pädagogik" programmatisch betrieb, entstehen Menschen, die eine Neigung davontragen, das, was sie in sich selbst niederhalten, aus sich herauszusetzen und an Sündenböcken zu verfolgen. Alles, was nicht sichtlich Ihresgleichen ist, kitzelt in ihnen einen Verfolgungs- oder gar Vernichtungsimpuls hervor.
Je rigider die Erziehung, desto heftiger das Verlangen, sich am anderen für eigene Verzichtleistungen schadlos zu halten: "Der da, der grenzt sich nicht so ein wie ich! Der lebt sich aus, während ich mich ständig am Riemen reiße!"
Beim zwanghaft selbstbeherrschten Menschen entsteht eine Art Juckreiz unterdrückter Gefühle. Nietzsche hat diesen Mechanismus in einem Selbstbeherrschung betitelten Aphorismus in seiner fröhlichen Wissenschaft prägnant beschrieben. Ständig fühlt der zwanghaft selbstbeherrschte Mensch sich bedroht, überall sieht er Kräfte am Werk, die ihn in Frage stellen. Ressentiments und Lustfeindlichkeit schlagen dem um sein Glück Betrogenen aus allen Poren.
Wie die Wünsche nach einem Mehr an Lust und Befriedigung ihn von innen her bedrohen, so sieht er draußen die "Kellerratten der Revolution" aus den Gullis herausdrängen. Spielerisch-provokant hat eine Berliner Punkerin den Mechanismus entlarvt, um den es hier geht und der bis heute wirksam ist. In den Anfangsjahren der Punk-Bewegung stieg sie mit ihrem schrillen Outfit und ihren bunten Haaren in ein Taxi ein. Der Fahrer, der noch nie etwas Ähnliches gesehen hatte, fragte verblüfft: "Wat bist‘n du für eene?" Sie antwortete: "Gestatten, ich bin Ihr Trieb!"
Nun soll und kann der Sozialcharakter des autoritären Bürgers und Kleinbürgers – der verschärften Variante des Bürgers – nicht den Faschismus erklären. Sagen wir es so: Diese Form der Subjektausstattung gehört zu den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit des Faschismus, ohne ihre massenhafte Verbreitung wäre er nicht möglich gewesen. Daher rührt bei Reich, Fromm, Mischerlich, Adorno und anderen das Bestreben darüber nachzudenken, wie Menschen beschaffen sein müssten, die für derlei nicht anfällig wären.
Erstrebenswert wäre ein Subjektaufbau, der einen kleinen Grenzverkehr mit dem "Anderen" der Person, ihrem verfemten Teil - in der Psychoanalyse würde man sagen: mit dem Unbewussten - möglich macht. Innen wird im Prozess des Erwachsenwerdens vieles verschüttet. Erwachsenwerden geht in unserer Kultur mit Wunschvernichtung und Ich-Einschränkungen einher, die ein Tribut an Herrschaft darstellen und geschichtlich längst nicht mehr nötig wären.
Denk- und wünschbar wäre eine Form von Triebverzicht, die durch Einsicht zustande käme. Sándor Márai ging bei einem längeren Englandaufenthalt auf, "dass freiwillige Disziplin mit einer gewissen relativen Freiheit gleichbedeutend ist" und Demokratie und Selbstbeherrschung zusammengehören. Sublimierung, in der die ursprünglichen Triebziele verwandelt und gebändigt fortleben, träte an die Stelle einer rigiden Triebunterdrückung.
Der Menschentyp, den ich mangels anderer Begriffe als nicht-faschistischen Bürger bezeichne, würde die schäbigen Seiten des Bürgers überwinden und seine besten Züge aufbewahren. Er wäre im Hegelschen Sinn eine gelungene dialektische Aufhebung der Widersprüche des bürgerlichen Subjekts. Er könnte es ertragen, dass in ihm verschiedene Teilpersonen koexistieren und gelegentlich im Streit miteinander liegen.
Wenn innen nicht gewaltsam Einheit hergestellt wird, muss sie auch draußen nicht herrschen. Die dem getretenen, geduckten und unterdrückten "kleinen Mann", an den Wilhelm Reich seine berühmte Rede gerichtet hat, eigene Wut auf die Differenz könnte sich zurückbilden und schließlich absterben, wenn den Menschen von den Verhältnissen weniger Bosheit eingepresst würde.
Voraussetzung dafür ist ein gewisses Maß an Angstfreiheit und ökonomisch-sozialer Sicherheit.