Was noch zur sexuellen Orientierung gesagt werden muss
Seite 2: Ist Homosexualität nun angeboren?
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Wir haben gesehen, dass der genetische Einfluss auf die sexuelle Orientierung beim heutigen Wissen moderat ist und es unwahrscheinlich ist, dass zukünftige Forschung der Verhaltensgenetik an dieser Einsicht rüttelt. Lässt sich damit die Frage beantworten, ob die geschlechtliche Auswahl unserer Sexpartner angeboren ist oder nicht?
"Genetisch" ist nicht dasselbe wie "angeboren". Letzteres bezieht sich auf das, was bei der Geburt feststeht. Und dafür können eben auch biopsychosoziale Einflüsse während der Schwangerschaft eine Rolle spielen: Denken wir etwa an ein Umweltgift, Stress oder Armut der Eltern.
Die meines Wissens bisher beste Untersuchung dieser Frage stammt von Niklas Långström vom schwedischen Karolinska Institut und Kollegen. Diese verwendeten die Daten von fast 4000 schwedischen Zwillingspaaren, die zwischen 1959 und 1985 geboren waren und in einen Online-Fragebogen Angaben über ihr Sexualleben machten. Die 2010 veröffentlichte Studie ist eine der wenigen, die auf repräsentativen Daten beruht und Teilnehmer nicht etwa über Kontaktanzeigen warb, was die Ergebnisse oft verzerrt.
Umwelt hat größeren Einfluss
Auch für diese Untersuchung wurde kein komplexer Begriff von Homosexualität verwendet, sondern schlicht nach gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten gefragt. Diese bejahten 5,6% der Männer und 7,8% der Frauen. Allerdings hatten diese Männer im Mittel 12,9 und die Frauen 3,5 gleichgeschlechtliche Partner gehabt. Damit lässt sich vermuten, dass viele dieser Befragten nicht nur einmal mit jemandem vom gleichen Geschlecht experimentierten, sondern sich davon wirklich angezogen fühlten.
Von den 807 eineiigen männlichen Zwillingspaaren hatte bei 71 mindestens ein Zwilling schon einmal gleichgeschlechtlichen Sex gehabt. Nur bei sieben Paaren hatten jedoch beide Zwillinge dies bejaht. Bei den Frauen waren es 26 von 214. Mit anderen Worten: Nur 10% (Männer) beziehungsweise 12% (Frauen) der eineiigen Zwillingspaare mit gleichgeschlechtlichem Kontakt stimmten trotz der großen genetischen Ähnlichkeit in ihrem Sexualverhalten überein.
Zusammen mit den Daten für die zweieiigen Paare errechneten die Forscher schließlich, dass sich für die Männer 39% der Unterschiede im Sexualverhalten durch die Gene, doch 61% durch die Umwelt erklären ließen. Für die Frauen waren es 19% und 81%. Als die Forscher noch die Anzahl der gleichgeschlechtlichen Kontakte miteinbezogen, sank der geschätzte genetische Beitrag noch einmal etwas.
Wie Erblichkeitsschätzungen insgesamt sind auch diese Berechnungen von der konkreten Umwelt abhängig, in der die Personen - hier: die schwedischen Zwillinge - aufwuchsen. Passend zu der eingangs zitierten neuen Studie zeigen aber auch diese Daten, dass die Gene keinen so starken Einfluss auf das Sexualverhalten haben, wie einige (einschließlich einiger Homosexueller) denken.
Der Geburtsfolgeeffekt
Damit ist die Frage, ob Homosexualität (und damit auch Heterosexualität) angeboren ist, aber noch nicht beantwortet. Der meinen Recherchen nach stärkste Effekt auf die sexuelle Orientierung, jedenfalls bei Männern, den die Wissenschaft bisher identifizieren konnte, ist die Geburtsfolge von Brüdern. Das heißt, Schwule haben mit höherer Wahrscheinlichkeit mindestens einen älteren Bruder. Hierzu hat insbesondere der Psychiater Ray Blanchard von der Universität Toronto in Kanada seit mehr als 25 Jahren geforscht.
Für die erst 2018 erschienene Meta-Analyse wertete er die Daten von fast 50.000 Hetero- und Homosexuellen aus 30 Einzelstudien aus. Mit nur einer Ausnahme stützten alle Einzelstudien die von ihm erwartete Hypothese. Im Mittelwert hatten die homosexuellen Männer 31% mehr ältere Brüder als die heterosexuellen.
Das kann freilich nicht die sexuelle Orientierung aller Schwulen erklären, schlicht schon aufgrund der Tatsache, dass manche gar keinen älteren Bruder haben. Blanchard schätzt, dass insgesamt rund 15-29% der homosexuellen Männer ihre Vorliebe für andere Männer auf diesen Effekt zurückführen können. Überraschend ist zudem das Ergebnis des Forschers, dass besonders feminine schwule Männer mehr ältere Brüder als andere Homosexuelle haben. In seinen eigenen Worten:
Die brüderliche Geburtsfolge ist mit Abstand der am besten belegte Faktor, der die sexuelle Orientierung von Männern beeinflusst. Die Personen, die zu dieser Meta-Analyse beitrugen, stammten von Kanada im Norden bis Brasilien im Süden, vom Iran im Osten bis Samoa im Westen. Sie sind in einer beinahe 150-jährigen Periode geboren, die 1861 begann.
Blanchard, 2018, S. 11; dt. Übers. S. Schleim
Der Forscher vermutet einen biologischen Mechanismus hinter dem Effekt: Zellen des männlichen Fötus drängten während der Schwangerschaft in den Körper der Mutter ein und würden dort vom eigenen Immunsystem bekämpft. So entstünden Antikörper gegen die männlichen Zellen.
Diese würden wiederum in den Körper folgender männlicher Föten derselben Mutter eindringen und dort zu Veränderungen des Nervensystems des heranwachsenden Jungen führen. Das wäre ein angeborener, jedoch nicht genetischer Effekt.
In einem begleitenden Kommentar weisen der Evolutionsbiologe Sergey Gavrilets von der Universität Tennessee und Kollegen auf die Vorläufigkeit dieser Erklärung hin. Diese Autoren favorisieren selbst einen epigenetischen Mechanismus, der näher erforscht werden sollte. So oder so erklärt der Effekt der Geburtsfolge allenfalls bei einem Teil die sexuelle Orientierung.
Zudem relativiert die aus der schwedischen Studie zitierte geringe Übereinstimmung unter Zwillingen, seien sie ein- oder zweieiig, die sich ja die Umwelt im Mutterleib teilen, die Tragkraft dieser Erklärung. Ich wiederhole noch einmal: "Nur 10% (Männer) beziehungsweise 12% (Frauen) der eineiigen Zwillingspaare mit gleichgeschlechtlichem Kontakt stimmten trotz der großen genetischen Übereinstimmung in ihrem Sexualverhalten überein."