Webpolitik: Vom Seil über das Web zum Filz

Schwächen und Stärken des Politischen im Web - Teil 1

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In früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten haben sich zum Erreichen und Durchsetzen politischer Ziele mächtige, solitär strukturierte und hierarchische Organisationen gebildet, angeführt von willensstarken und charismatischen Führern. Der Einzelne schließt sich einer solchen Organisation an, er ordnet sich ein und ordnet sich damit auch unter. Diese Organisationen ähneln nicht Netzen und genau genommen auch nicht hierarchischen Baumstrukturen, sondern festen Seilen, in denen sich Fasern zu Adern und zu Litzen ordnen, die dann systematisch zum Seil geschlagen werden.

Die Organisation von Parteien in Orts- und Regionalverbände mit Weisungs- und Berichtsstrukturen ist eine Kulturtechnik, die sich in der Tradition der westlichen parlamentarischen Demokratien gebildet hat. Hier wird alle Kraft und jeder Wille gebündelt und in die gleiche Richtung gezogen. Somit ist eine Partei ein Stück Technik, das von politischen Menschen mit Macht und Willen für ihr Handeln eingesetzt wird.

Die Attraktivität von politischen Parteien besteht darin, dass sie prinzipiell als Technik zur Umsetzung der persönlichen Ziele jedes Mitgliedes dienen können, welches sich in sie einordnet, Teil ihres Mechanismus wird, um irgendwann diesen Mechanismus selbst nutzen zu können.

Deformation des Einzelnen durch Einordnung

Das Problem dieser politischen Parteien und ähnlicher Organisationen wie z.B. Gewerkschaften ist bekanntlich, dass die, die sich in sie einordnen, faktisch gezwungen sind, in jeder politischen Frage mit ihren Genossen in die gleiche Richtung zu ziehen. Ein Seil kennt nur eine Zugrichtung, und eine Faser, die in ihm verarbeitet ist, wird entweder in dieser Richtung mitziehen oder als störender Fehler oder Defekt die Kraft des Ganzen beeinträchtigen. Ein Seil ist zwar biegsam, kennt aber an jeder Stelle nur eine Richtung.

Notwendig ist das, weil gemeinsame Handlung Koordination voraussetzt, und die braucht, umso mehr Menschen beteiligt sind, Zeit. Jeder Teilnehmer einer Aktion verfügt bekanntlich nur über begrenztes Wissen, aber vor allem kann er sich der Handlungen der anderen Beteiligten nicht sicher sein. Wenn der Erfolg des eigenen Handelns aber vom Handeln vieler anderer Menschen abhängt, dann ist genau diese Sicherheit notwendig. Das ist die Koordination, bei der zunächst Informationen über die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen und ihrer örtlichen und regionalen Gruppen gesammelt werden müssen, sodann eine zentrale Aktionsplanung erstellt und Handlungsanweisungen an die Teilstrukturen verteilt werden müssen. So schränkt jeder Teilnehmer seine eigenen Handlungsmöglichkeiten ein, indem er sich darauf konzentriert, eine Anweisung auszuführen. Ob sie wirklich dem Erfolg der Gesamtaktion und ob sie vor allem auch den Zwecken dient, wegen denen er der Organisation beigetreten ist, kann er im Moment seiner Handlung gar nicht beurteilen.

Derartige Organisationsformen können also in der Wirklichkeit der Beteiligten deutliche Spuren erzeugen, ob diese Spuren aber zu Wegen werden, wie sie in der Idealwelt der Mitglieder erträumt waren, ist ungewiss. Trotzdem blieb dem Einzelnen, wenn er die Wirklichkeit in einer Weise verändern wollte, die seine eigene Kraft und seine eigenen Fähigkeiten überstieg, nichts anderes übrig, als sich zuverlässig und auf Dauer solchen - und oft auch dauerhaft einer einzigen - Organisation anzuschließen. Der Aufwand der Informationsbeschaffung und der Abstimmung mit anderen im Einzelfall ist bis vor wenigen Jahren einfach zu hoch gewesen, als dass ein Einzelner ihn für jedes seiner Ziele hätte treiben können. Also musste er sich unabhängig vom konkreten Ziel zunächst einer Organisation anschließen, von der er vermutete, dass sie häufig Ziele anstrebt, die seinen eigenen entsprechen, um sie dann im Einzelfall zum Erreichen der eigenen Ziele nutzen zu können.

Von der hierarchischen Organisation zum Web

Die Vernetzung und die mobile Online-Kommunikation versprechen gegenwärtig, diesem Problem abzuhelfen. Grundsätzlich schaffen sie die Möglichkeit, die Struktur des geplant aufgebauten Seiles durch die eines Gewebes zu ersetzen, in welches jeder Teilnehmer neue Fäden und Verbindung hineinweben kann - und das quasi in jede Richtung und auf nahezu beliebige Entfernung. Was so entsteht, gleicht wiederum keinem symmetrischen oder gleichmäßigen Netz, sondern es wird zum Geflecht, zum Dickicht, zum Fließ oder Filz. Es ist kein Net, sondern ein Web.

Ein solches Gebilde kann natürlich auch eine große Stabilität und Festigkeit haben, aber die Frage ist, wie es darin möglich sein kann, dem Handeln vieler Einzelner wenigstens auf Zeit und zu einem bestimmten Thema ein Richtung zu geben, sodass eine neue, von den Handelnden gewünschte Wirklichkeit entsteht. Experimente wie Flashmobs, das Wirken von Anonymous, aber auch Facebook-Partys zeigen, dass das möglich ist, aber es handelt sich dabei - wie die Bezeichnung Flash ja schon andeutet - nur um kurzzeitige, blitzartige Einbrüche der Netzwelt in die Wirklichkeit. Dauerhafte Veränderungen der Wirklichkeit, die die handelnden Menschen für wünschenswert halten, sind damit noch nicht geschaffen worden.

Die Schwäche aller kommenden Revolutionen, die von einem Web und nicht von einer linearen oder hierarchischen Organisation getragen werden soll, besteht in ihrer selbstverständlichen und unvermeidlichen Richtungslosigkeit. Der vernetzte Mensch ordnet sich nicht in ein bestehendes starres Gebilde ein, er erzeugt selbst ein eigenes Stück am vorgefundenen Netz, in das er sich hineinwebt. Die vernetzte Vernunft akzeptiert auf Dauer keine Autorität, sie schafft ständig neue Verbindungen und kappt alte Beziehungen. Das gibt dem Web Dynamik und Flexibilität, aber eben auch Richtungslosigkeit.

Um eine Gesellschaft aus einem stabilen Zustand herauszuziehen, ist aber eine starke Kraft notwendig, die in eine Richtung wirkt. Ein Netz, das sich zum Geflecht und schließlich zum Filz verdichtet, hat auch eine stabilisierende Wirkung auf bestehende Strukturen. Es ist ein elastischer Boden, der Stöße und Zugkräfte in alle Richtungen verteilt und nach ein paar Schwingungen wieder zur Ruhe kommt, weil es die Energie des Impulses absorbiert und in Reibungswärme umgewandelt hat. Keine Struktur ist stabiler und gegen wirkliche Umwälzungen unempfindlicher als der Filz, der durch die Verbindung aller Knoten eines Gewebes mit allen anderen entsteht. So ein Filz dämpft jedes Geräusch und fängt jeden Stoß ab.

Ein altes Problem

Mit diesem Problem hatten alle Revolutionäre zu kämpfen, die sich in irgendeiner Weise als Netzwerk von Gleichen, als Zusammenschluss von Autonomen, zu organisieren versuchten. Die Grünen wurden erst zu ernstzunehmenden politischen Kraft, als sie von der Basisdemokratie zu mehr oder weniger zentralistischen Strukturen gewechselt waren. Dieser Wechsel ist weniger an den Statuten und Satzungen abzulesen, als vielmehr an der faktischen Bündelung der Macht bei einigen wenigen zentralen Führungsgestalten, die in der Lage sind, die Willen der Vielen in ihrem Sinne zu bündeln und zu lenken.

Formale Basisdemokratie kann von informellen charismatischen Führern ebenso überlagert werden, wie es möglich ist, dass in einer Organisation mit formalisierten Regelwerken basisdemokratisches Gewimmel herrscht. Bürgerbewegungen wie diejenigen, die sich am Ende der DDR basisdemokratisch gebildet hatten, waren instabil und in der etablierten Parteienstruktur letztlich chancenlos, weil jede Energie letztlich in Reibung und Richtungslosigkeit verloren ging. Solche Netze, solche zarten Gewebe zerreißen bei großer Energie eher, als dass sie helfen, den Kräften eine Richtung zu geben.

Das gleiche Phänomen ist bis zum heutigen Tag bei basisdemokratischen Web-basierten Bewegungen zu sehen. Solange die Impulse für die Gesellschaft klein, lokal und kurzfristig bleiben, hält das Netz und kann durch seine Schnelligkeit und Flexibilität ein paar Wellen erzeugen, aber sobald die Kräfte so groß werden, dass sie tatsächlich zu einer dauerhaften Veränderung der Wirklichkeit führen könnten, zerreißt das Gewebe.

Vielleicht ist es tatsächlich notwendig, dass sich innerhalb der richtungslosen verwobenen Struktur, im Geflecht der Verbindungen und Beziehungen, für eine gewisse Zeit informelle hierarchische Strukturen herausbilden, die dem Konturlosen eine Richtung geben, die den Filz zu Fäden verdichten, entlang derer sich die Kräfte der Vielen orientieren?

Dem Web der Online-Welt sind solche Kraftzentren ja nicht fremd, denn das Web, auch wenn es jede Verbindung und jedes sich verdichtende Wachstum an jedem Ort zu jeder Zeit prinzipiell zulässt, bildet an seinen konkreten Oberflächen immer wieder Kraftzentren auf die sich die Aktivitäten der einzelnen hin ausrichten.

Jedes Web hat ein paar bedeutende Gestalten, die in Blogs, auf Twitter und in den sozialen Netzen die Energien der Anderen binden und bündeln können. Sie sind nicht gewählt, sie werden nicht ernannt, und sie haben sich vielleicht nicht einmal nach dieser Rolle gedrängt, noch dass sie sie zur großen Umwandlung der Wirklichkeit in ihrem Sinne, zur Revolution der Verhältnisse zielgerichtet einsetzen wollten. Sie mehr oder weniger zufällig zu dem geworden was sie nun sind - zentrale Knoten in einem ungeplanten aber deshalb nicht weniger hierarchischen informellen Netz.

Nur die Bestätigung des eigenen Weltbildes

Auf dieser Ebene erreicht die Kommunikation in Online-Gemeinschaften keine andere Qualität als die sein Jahrhunderten existierende Zeitungslandschaft: so wie dort jeder politisch interessierte Bürger nach ein paar Versuchen diejenige Zeitung ausgewählt und abonniert hat, die mit seiner eigenen Meinung am besten übereinstimmt, abonniert hier der Online-Bürger ein paar Blog-Autoren und Twitter-Accounts von denen er immer wieder Bestätigungen für seine eigenen Urteile und Meinungen erhält. Eine Online-Gemeinschaft ist die beste Möglichkeit für die vernetzte Vernunft, ohne viel Risiko und Überraschungen eine Übereinstimmung zwischen eigenen Welt und Wirklichkeit zu erzeugen, denn aus den ungeheuer vielfältigen Anknüpfungspunkten der Online-Realität lässt sich mit großer Sicherheit ein persönliches Netzwerk knüpfen, das zur eigenen Welt passt und dessen Nachrichten und Meinungsäußerungen das eigene Weltbild optimal täglich aufs Neue bestätigen.

Die einzige politische Aktivität besteht in diesen Online-Netzwerken genau in dieser gegenseitigen Bestätigung der eigenen Meinung, des eigenen Weltbildes. Das Risiko der Konfrontation dieses Weltbildes mit einer abweichenden Wirklichkeit ist gering, denn wenn auch die Informationskanäle inzwischen vielfältig geworden sind - sie bestehen aus Blog-Artikeln und -kommentaren, Bildern, Video-Sequenzen, Twitter-Meldungen, Artikeln in ausgewählten Online-Medien -, so erreichen sie mich alle ausschließlich über das Display eines Internet-Clients, und meine Handlungen bestehen ausschließlich in der Nutzung der technischen Möglichkeiten, die mir eben dieser Internet-Client anbietet: Eingabe von Text, Erzeugen von Fotos und Video-Sequenzen, die ich dann wiederum anderen Kommunikationsteilnehmern an ihren Internet-Clients zur Kenntnisnahme bereitstelle.

Es soll hier nicht behauptet werden, diese Kommunikation, diese Aktivitäten seien in irgendeiner Weise "nur virtuell" und schon gar nicht soll hier der Fehler gemacht werden zu behaupten, dieses "Virtuelle" stehe einer Wirklichkeit, gar der Realität als Ganzer, gegensätzlich gegenüber. Alles Virtuelle ist auch real und nichts bleibt auf Dauer virtuell (Nichts bleibt virtuell). Aber den Aktivitäten der Online-Kommunikation fehlt etwas sehr Wichtiges, was es bräuchte, um es insgesamt als politisches Handeln ansehen zu können: die Leiblichkeit.

Teil 2: Politik kann nicht nur online stattfinden, sie muss auf die Straße