Wehe, wenn es taut
Der Klimavertrag von Paris soll den Temperaturanstieg bis Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzen. Warum eigentlich? Eine Betrachtung in drei Teilen, Teil 2: Die Frostbereiche der Erde
Es ist wie bei der Körpertemperatur des Menschen: Zwei Grad machen den Unterschied aus zwischen Alltag und Lebensgefahr. 37 Grad Körpertemperatur ist unser Normalzustand, oberhalb von 39 Grad spricht die Medizin von hohem Fieber. In der Regel verschreiben Ärzt:innen dann fiebersenkende Medikamente. Denn wenn das Fieber weiter steigt, sind die Lebensfunktionen des Menschen in Gefahr: Zuerst stellen sich Krämpfe ein, dann versagen Organe und das führt schließlich zum Tod.
Teil 1: Die Wälder der Erde
Mehr als zwei Grad darf auch die globale Oberflächentemperatur im Durchschnitt nicht ansteigen. Die Warnung der Klimaforschung ist dramatisch: Oberhalb von zwei Grad kommt es zu gefährlichen Verwerfungen im Wetter und Klimasystem der Erde. Das liegt an 16 Kippelementen, Systeme im Weltklima, die bei steigender Globaltemperatur aus dem Gleichgewicht geraten.
Die Permafrostböden sind zum Beispiel solch ein Kippelement: 23 Millionen Quadratkilometer sind auf der Nordhalbkugel dauerhaft gefroren, in Alaska, Nordkanada, Nordskandinavien und Sibirien. Dieser Frostboden wirkt wie eine riesige Tiefkühltruhe: In ihm sind gigantische Mengen abgestorbener Pflanzenreste eingeschlossen. Taut der Boden auf, werden diese durch Mikroben zersetzt und Lachgas, Methan oder Kohlendioxid wird frei – eine Treibhausgasfracht, die vom Menschen nicht aufzuhalten ist.
Methan besitzt in der Atmosphäre 25 mal so viel Zerstörungspotential wie Kohlendioxid. Das bedeutet, dass Methan 25-mal stärker zur Erderwärmung beiträgt, als CO2. Das Zerstörungspotential von Lachgas ist sogar 298 mal größer als von Kohlendioxid. Einmal in die Luft entwichen, reichern sich die Wärmeblocker in der Atmosphäre an und treiben die Oberflächentemperatur des Planeten immer weiter nach oben.
Im oberen Bereich der Permafrostböden – also in dem, der zuerst auftaut – stecken bis zu 1,5 BillionenTonnen Kohlenstoff. Das ist fast doppelt so viel, wie sich derzeit in der gesamten Erdatmosphäre befinden. "Allein der Permafrost birgt das Potenzial, die Klimaziele von maximal zwei Grad Celsius Erderwärmung deutlich zu übertreffen", sagt Guido Grosse vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI).
Weil die Erderwärmung an den Polen deutlich schneller als etwa am Äquator voranschreitet, beginnt es in nördlicheren Breiten bereits jetzt zu tauen: Die Dauerfrostregionen sind in Sibirien und Nordamerika schon jetzt um bis zu 100 Kilometer zurückgegangen. "Einmal in Gang gesetzt, lässt sich der schnelle Tauprozess nicht mehr aufhalten", sagt Grosse.
In welchem Maße die globale Erwärmung schon jetzt dem Permafrost zugesetzt hat, das ermittelte ein internationales Forscherteam. Boris Biskaborn vom Alfred-Wegener-Institut in Potsdam und sein Team haben dafür zehn Jahre lang – von 2007 bis 2016 – die Bodentemperatur in Bohrlöchern in der Arktis, der Antarktis und in verschiedenen Hochgebirgen der Welt gemessen und ausgewertet.
Der komplette Datensatz umfasst 154 Bohrlöcher, die Auswertung wurde im Fachmagazin Nature Communications veröffentlicht: Innerhalb von nur zehn Jahren hat sich der Permafrostboden an mehr als der Hälfte der Probestellen messbar erwärmt. Bei fünf Bohrlöchern war der Permafrost sogar in zehn Meter Tiefe bereits aufgetaut. Professor Grosse: "All unsere Daten zeigen, dass sich der Permafrost nicht nur lokal und regional erwärmt, sondern weltweit und nahezu im Takt mit der Klimaerwärmung."
Die Arktis verliert ihren Spiegel
Dramatisch ist die Situation auch rund um den Nordpol. Seit Jahren geht dort die Meereisbedeckung zurück, am Ende des vergangenen Sommers waren nur noch 3,74 Millionen Quadratkilometer des arktischen Ozeans mit Eis bedeckt – die zweitgeringste Meereisbedeckung am Nordpol, die jemals gemessen wurde. Auch diese Meereisbedeckung ist ein Kippelement, wie Christian Haas, auf Meereis spezialisierter Geophysiker, erläutert: "Eisflächen haben einen höheren Rückstrahleffekt als die Wasseroberfläche." Dieser so genannte Albedo-Effekt macht die Entwicklung auch hier unaufhaltsam: Ist das Eis einmal verschwunden, reflektiert das darunter liegende dunkle Wasser viel weniger Sonnenstrahlen.
Man kann das gut mit einem Spiegel illustrieren: Helles Meereis wirft sehr viel Energie in den Weltraum zurück. Fehlt es, dringt die Sonnenenergie in den dunkleren Ozean ein. Im arktischen Sommer scheint die Sonne 24 Stunden am Tag. Forscher Haas formuliert es so: "Das Wasser heizt sich immer weiter auf und das noch schwimmende Eis auf dem Ozean schmilzt noch schneller." Ein Teufelskreis.
Relativ einfach lässt sich das Kippelement Grönland-Eis erklären: Die größte Insel der Welt ist sechsmal größer als Deutschland, ihr Eispanzer an vielen Stellen mehr als 3.000 Meter hoch. Dort oben ist es wie auch bei uns in den Bergen kühler als weiter unten.
Doch steigt die globale Temperatur über einen kritischen Punkt, beginnen auch die obersten Schichten zu schmelzen. Die Oberkante sinkt dann in immer wärmere Luftschichten nach unten, was das Tauen beschleunigt. Umkehren lässt sich der Prozess vom Menschen dann nicht mehr, weil es Eiszeit-Temperaturen bräuchte, damit der Eispanzer über lange Zeit wieder auf seine heutige Größe wachsen könnte.
Bei welcher Temperaturschwelle genau das unaufhaltsame Abtauen ausgelöst wird, ist unklar. Forscher vermuten sie irgendwo zwischen 1,5 und zwei Grad Erderhitzung. Vor allem an den Rändern taut das Grönland-Eis schon lange, von 1992 bis 2018 sind etwa 3,9 Billionen Tonnen Eis geschmolzen und ins Meer geflossen.
"Und was in Grönland schmilzt, lässt auch bei uns den Meeresspiegel steigen", erklärt Boris Koch, chemischer Ozeanograph am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. "Taut der grönländische Eispanzer komplett ab, steigt allein dadurch der Meeresspiegel um sieben Meter."
Der Meeresspiegel steigt nur sehr langsam
Leider bleibt es nicht bei der Grönlandschmelze. Auch die Antarktis ist ein Kippelement. "Der wesentliche Unterschied zum Schmelzen auf Grönland ist der Rückgang von Schelfeis", sagt Ingo Sasgen, Glaziologe am Alfred-Wegener-Institut.
Schelfeis schwimmt auf dem Meer und schützt so die Gletscher der Antarktis, in Grönland gibt es diesen Schutz nicht. "In der Antarktis sind nicht die Lufttemperaturen Ursprung des Schmelzens, sondern die Wassertemperaturen", so Sasgen.
Die Ozeane haben große Teile jener Energie aufgenommen, die der menschgemachte Treibhauseffekt auf der Erde hält. Nach Berechnungen des Atmosphärenphysikers Lijing Cheng nahmen die Weltmeere in den letzte 25 Jahren die unvorstellbare Menge von 228 Zettajoule auf – die Energie von 3,6 Milliarden Hiroshima-Atombomben. Das entspricht etwa vier Hiroshima-Bomben pro Sekunde.
In der Westantarktis haben Winde vergleichsweise warmes Tiefenwasser an den Eisrand gebracht. "Das wärmere Wasser setzt dem Schelfeis zu", sagt Sasgen. Wird dieser Schelfeisgürtel zerstört, fehlen Rückhaltekräfte und das Eis der antarktischen Inlandsgletscher fließt immer schneller nach und die Gletscher ziehen sich zurück. Der Prozess hat in der Westantarktis bereits begonnen, sagt der Glaziologe: "Einmal in Gang gesetzt, lässt sich der Masseverlust nicht mehr stoppen".
Als ob dies nicht genug ist: Jahr für Jahr gehen in den Hochgebirgen, den Alpen, Anden oder Rocky Mountains, im Altai, Pamir oder Himalaya die Gletscher zurück – derzeit rund 335 Gigatonnen Eis pro Jahr. Die weltweite Verlustrate an Eis hat sich in den vergangenen 25 Jahren verdoppelt.
Noch aber empfinden wir das nicht als bedrohlich: Der Pegel der Weltmeere steigt so langsam, dass Bremerhaven vermutlich erst in 100 Jahren vom Ozeanwasser verschluckt sein wird. Allerdings machen das die Kippelemente zum Naturgesetz: Den Meeresspiegelanstieg, den wir derzeit auslösen, werden die folgenden Generationen hunderte Jahre lang ausbaden müssen.
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