"Weil Journalismus nicht objektiv sein kann"
Seite 2: "Im Gehirn gibt es kein Faktenzentrum"
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Nun sind Sie Neurowissenschaftlerin. Was können Sie denn mit dem Wissen Ihrer Disziplin dazu sagen, wo die Schwierigkeiten liegen, wenn von Objektivität im Journalismus gesprochen wird.
Maren Urner: Aus der Gehirnforschung wissen wir: Im Gehirn gibt es kein Faktenzentrum. Tatsachen und Zusammenhänge können wir nur mit Hilfe unsere Gefühle sinnvoll einordnen. Sie sind gewissermaßen der Indikator dafür, ob wir etwas als "richtig" oder "falsch" empfinden. Diese Gefühle wiederum basieren immer auf unseren persönlichen Erfahrungen und den Werten, die in unserer Gesellschaft als akzeptiert gelten. Wir ärgern uns ja nur über die Panama und Paradise Papers, weil wir es als falsch empfinden, wenn Menschen kaum Steuern zahlen. Wenn nun von "Objektivität im Journalismus" gesprochen wird, gaukelt dies eine Neutralität vor, die es nicht geben kann.
Hang zum Negativen
Welche Probleme gibt es noch?
Maren Urner: Ein großes Problem ist der gut dokumentierte der Hang zum Negativen in der Berichterstattung. Der Slogan "Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten" ist in vielen Redaktionen noch immer Programm und sorgt dafür, dass vorwiegend über negative Einzelereignisse berichtet wird. Langfristige - und häufig hoffnungsvolle - Entwicklungen bleiben auf der Strecke. Das sorgt für ein zu negatives Weltbild, das weit von der Realität entfernt ist. Außerdem lässt es viele Medienkonsumenten gestresst, hilflos und letztendlich zynisch zurück.
Sie gehen in Ihrem Artikel soweit, dass Sie sagen, die Behauptung, objektiv zu berichten, gefährde sogar die Demokratie. Wie meinen Sie das?
Maren Urner: Das hängt mit der wichtigen Rolle der eben angesprochenen Werte zusammen, die für uns definieren, was "richtig" und was "falsch" ist. Proklamieren Journalisten aber, dass sie objektiv informieren und stimmen meine Werte dann nicht mit ihren überein, bin ich erst enttäuscht und dann vielleicht wütend.
Aus dieser Perspektive bekommt der von AfD, Trump und anderen geäußerte Vorwurf, die Presse sei einseitig, verlogen und würde nicht "objektiv" berichten, eine ganz neue Bedeutung, wirken vielleicht sogar gerechtfertigt. So gefährdet die Behauptung, »objektiv« zu berichten, am Ende die Demokratie.
Was sollte sich denn im Journalismus ändern, wenn von Objektivität gesprochen wird?
Maren Urner: Ich würde den Begriff nur verwenden, um zu erklären, warum Journalismus nicht objektiv sein kann.
Eines der Probleme scheint mir allerdings: Journalismus, so bitter vielleicht auch diese Wahrheit ist, muss immer auch im Kontext von Macht, Herrschaft und Interessen gedacht werden. Anders gesagt: Medien und Journalismus existieren eben nicht im herrschaftsfreien Raum. Gerade bei gewichtigen politischen Themen, wo bekanntlich sehr viele Interessen mit im Spiel sind, geht es auch darum, die Illusion von einer Berichterstattung aufrechtzuerhalten, die angeblich ein möglichst hohes Maß an Objektivität anstrebt. Wie sehen Sie das?
Maren Urner: Dem ersten Teil Ihrer Aussage stimme ich natürlich zu. Journalismus wird ja auch gern als die Vierte Macht im Staat bezeichnet, die eine Wächterfunktion hat. Meine Schlussfolgerung aus der Erkenntnis, dass Macht und zahlreiche Interessen eine Rolle bei den komplexen Vorgängen in dieser Welt spielen, ist aber eine andere. Denn genau deshalb ist es so wichtig, über Werte und Ziele zu sprechen.
Auch hier hilft wieder ein Beispiel, dieses Mal in Form eines Vergleichs: Während in Deutschland Journalisten die Wächterfunktion einnehmen, wenn sie Steuervermeidern auf die Finger schauen, hat in China die Wächterfunktion eine ganz andere Bedeutung. Der Schutz der Nation steht an oberster Stelle. Nur wenn Wertvorstellungen offen diskutiert werden, kann Journalismus seiner Verantwortung gerecht werden.
"In den Chefetagen bestimmen festgefahrene Hierarchien und Ellenbogenmentalität den Alltag"
Wie sind Sie denn überhaupt darauf gekommen, sich mit dem Thema Objektivität im Journalismus auseinanderzusetzen?
Maren Urner: Als Neurowissenschaftlerin habe ich mich damit beschäftigt, wie wir Informationen verarbeiten, unser Weltbild formen und damit in der Welt handeln. Es hat mich traurig gemacht zu sehen, dass in den Medien zu wenig über die großen Herausforderungen unserer Zeit und deren potenzielle Lösungen berichtet wird. Darum habe ich vor gut zwei Jahren Perspective Daily mitgegründet. Wir haben uns dem Konstruktiven Journalismus verschrieben. Das bedeutet in aller Kürze, immer die zusätzliche W-Frage "Wie kann es weitergehen?" mitzudenken.
Seit der Gründung von Perspective Daily bewegen Sie sich im journalistischen Feld, begegnen vielen anderen Journalisten. Wie ist denn ihr Eindruck? Anders gefragt: Ist Ihnen etwas positiv oder negativ aufgefallen?
Maren Urner: Natürlich ist es schwierig, die Erfahrungen der letzten Jahre in aller Kürze zusammenzufassen, ich erwähne aber gern zwei Reaktionen, die mir häufiger begegnen. Die erste ist große Begeisterung und Offenheit gegenüber der unterschiedlichen Herangehensweise an den Journalismus, die wir mit Perspective Daily in die Welt tragen. Diese offene Haltung begegnet mir häufig von Seiten jüngerer Journalisten und das ist unheimlich motivierend.
Die zweite ist weniger positiv, aber trotzdem sehr wichtig: Ich stelle immer wieder fest, dass es - gerade in den Chefetagen - an Offenheit mangelt, neue Ideen und wissenschaftliche Erkenntnisse umzusetzen. Festgefahrene Hierarchien und Ellenbogenmentalität bestimmen hier den Alltag. Meine Hoffnung ist, dass sich die jungen Journalisten ihre Offenheit bewahren und zwar auch dann, wenn sie selbst in den Chefetagen ankommen und die Verantwortung tragen.