Weiteres Indiz gegen die Täterschaft von Anis Amri
Ein Augenzeuge berichtet im Abgeordnetenhaus von Berlin Details, die nicht zu dem angeblichen tunesischen Attentäter passen
Ein Augenzeuge, der den Attentäter aussteigen und weggehen sah, nachdem der Lastwagen durch den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz gerast war, hat ein Detail wahrgenommen, das nicht zum angeblichen Täter Anis Amri passt: Seine Schuhe seien hell-beige und knöchelhohe Boots gewesen. Der verdächtigte Tunesier trug rote Sportschuhe, wie die bekannte Videoaufnahme in einem U-Bahn-Tunnel zeigt. Das macht die Beobachtung brisant. Vor Wochen wäre sie noch nicht aufgefallen.
Erstmals hat im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin ein Augenzeuge des Anschlagabends ausgesagt. Bisher wurden fast ausnahmslos Beamte befragt: Polizisten, Staatsanwälte, Nachrichtendienstler. Herr P., so der Zeuge, saß am 19. Dezember 2016 um 20 Uhr zusammen mit einem Kollegen noch im Büro im 20.Stock des Waldorf Astoria-Gebäudes. Der untere Teil des Hochhauses ist ein Hotel, oben liegen gewerbliche Büroräume. P. ist Immobilienberater und 45 Jahre alt.
Als die beiden ein lautes Geräusch wahrnahmen, das sich anhörte wie ein umfallender Stapel von Europaletten, so der Zeuge, gefolgt von Schreien, die dann abrupt aufhörten, seien sie sofort aufgestanden und ans Fenster gegangen. Es liegt an der Front zur Hardenbergstraße, sei bodentief, so dass man direkt nach unten sehen könne. Rechts konnten sie zum Breitscheidplatz schauen, links zum Hardenbergplatz und Bahnhof Zoo. Sie sahen den LKW stehen, der eben durch den Weihnachtsmarkt gefahren war. Die Fahrertür sei aufgegangen und ein Mann heraus gesprungen. Ein Blick auf die Beifahrertür sei nicht möglich gewesen. Der Mann sei am Auflieger entlang nach hinten gegangen, sei noch einmal zurück bis zur Mitte, habe sich nach unten gebeugt und unter den LKW geschaut. Dann sei er mitten über die Straße auf die andere Straßenseite und Richtung Kino Zoopalast gegangen, das dem Waldorf Astoria-Gebäude genau gegenüberliegt. Er habe "relativ ruhig" gewirkt.
Da ihm und seinem Kollegen ein solches Verhalten eines LKW-Fahrers, der eben zumindest einen schweren Unfall verursacht hat, komisch vorgekommen sei, hätten sie entschieden, ihn zu verfolgen. Während sein Kollege oben am Fenster stehen bleiben sollte, um zu schauen, wohin sich der Fahrer bewege, habe er, P., sich auf den Weg nach unten gemacht.
Er beschrieb den Mann mit dunklen Haaren, dunkler, sportlicher, eng anliegender Kleidung und hellen beige-farbenen Bootsstiefeln wie aus Wildleder, die aussahen wie neu. Die seien wie ein Erkennungszeichen des Fliehenden gewesen. Gerade weil es dunkel war, hätten die Schuhe umso mehr reflektierend gewirkt und ihm geholfen, ihn zunächst im Auge zu behalten.
Unten auf der Straße habe er zwei Polizeibeamte angesprochen und berichtet, was er und sein Kollege gesehen hätten. Über Handy berichtete der von oben, dass der LKW-Fahrer zum Hardenbergplatz gegangen sei. Doch dann sei er hinter einem Linienbus verschwunden, er habe ihn verloren.
Im Streifenwagen und auch zu Fuß versuchten die Beamten und ihr Augenzeuge im Bereich des Tiergartens den fliehenden Fahrer wieder zu finden. An der Straße des 17. Juni nahm die Polizei dann einen Mann fest, der aus dem Park kam, schwarz gekleidet war und ähnliche Schuhe trug wie der Verdächtige. Er wurde zur nächsten Polizeiwache gebracht. Es handelte sich um den Pakistaner Navid B., der aber mit der Tat nichts zu tun hatte.
Der Polizei war das relativ schnell klar, vor allem, weil der Festgenommene keinerlei Spuren aufwies, die auf einen LKW-Unfall hindeuteten: keine Verletzungen, keine Glassplitter oder ähnliches. Doch obwohl die Polizei eine Tatbeteiligung ausschloss, blieb der Pakistaner in Gewahrsam. Nachts um 2 Uhr wurde bundesweit an die Sicherheitsbehörden sogar die Nachricht übermittelt, ein Tatverdächtiger sei festgenommen worden. Erst am Abend des 20. Dezember, nach etwa 24 Stunden, wurde Navid B. wieder entlassen.
Die Befragung des Zeugen P. im Untersuchungsausschuss verlief von Seiten der Abgeordneten streckenweise aufgeregt. Ja, so der Zeuge auf Nachfragen, er habe aus dem 20. Stock erkennen können, dass der fliehende Fahrer helle Boots trug. Ja, rote Schuhe schließe er aus. Nein, eine Waffe habe er nicht bei ihm gesehen. Nein, das Gesicht habe er nicht genau erkennen können. Nein, es sei ihm nicht möglich zu bestätigen, dass es sich um Anis Amri gehandelt habe.
Es gibt eine Reihe von Handyvideos, die Passanten oder Anwohner unmittelbar nach der Tat gemacht haben. Ein paar von ihnen hat der Rundfunk Berlin-Brandenburg ins Netz gestellt. Das BKA macht auf einen Mann aufmerksam, der sich Richtung Bahnhof Zoo vom Anschlagsort entfernt und der Schuhe mit hellen Sohlen trägt. Auch diese Sohlen wirken reflektierend, so dass man sie noch in einigem Abstand erkennen kann. Es könnte sich sogar um den Ausgestiegenen mit den hellen Boots gehandelt haben.
"Der Täter hatte rote Schuhe!"
Vor allem die Beschreibung der hellen Stiefel widerspricht der Annahme, dass es sich bei dem Fahrer um Anis A. gehandelt hat. Dem Zeugen war das entgangen. Dass auf dem Video der Berliner Verkehrsbetriebe Amri in roten Schuhen zu sehen ist, sei ihm bisher nicht bewusst gewesen, erklärte er.
Kurze Zeit nach dem Anschlag habe sich die Presse bei ihm gemeldet. Er wollte aber nicht mit ihr reden. Seine Zeugenaussage jetzt war seine erste öffentliche Schilderung, was er damals gesehen habe. Auch Vertreter der ermittelnden Behörden hätten ihn seither nicht mehr befragt.
Die Brisanz seiner Aussage kommt in dem apodiktischen Satz von Ausschussmitglied Benedikt Lux (Bündnis 90/Die Grünen) zum Ausdruck: "Der Täter hatte rote Schuhe!" Vielleicht hätten die Behörden ja deshalb nichts mehr von dem Zeugen wissen wollen. Damit wertete er die Zeugenaussage ab.
Strenggenommen formulierte Lux einen falschen Vorhalt. Tatsache ist lediglich: Anis A. trug rote Schuhe. Wenn der LKW-Fahrer aber hell-beige Schuhe trug, kann es Amri nicht gewesen sein. Zwei verschiedene Personen. Der Abgeordnete sitzt in der Festlegungsfalle: Anis Amri gleich Täter. Diese Festlegung behindert die Aufklärung nun seit Jahren.
Sachverhalte in dieser Weise auf den Kopf zu stellen, ist aus dem Anschlagskomplex NSU zur Genüge bekannt. Beim Polizistenmord in Heilbronn haben mehrere Zeugen kurz nach der Tat mindestens drei blutverschmierte Männer gesehen. Die erstellten Phantombilder haben keine Ähnlichkeit mit den vorgeblichen Tätern, den NSU-Mitgliedern Böhnhardt und Mundlos. Daraus folgerte die Bundesanwaltschaft, die Zeugen hätten bei den Blutverschmierten eben nicht die Täter gesehen, sondern irgendjemand anderes. Wenn man diese tendenziöse Logik aber vom Kopf auf die Beine stellt, ergibt sich eine andere Erkenntnis: Dann waren nicht Böhnhardt und Mundlos die Täter von Heilbronn, sondern eben andere.
Zum ersten Mal war in einem Untersuchungsausschuss ein unbeteiligter Tatzeuge gehört worden. Egal, ob seine Aussage Schwachstellen haben mag, wichtig ist, sie so getreu wie möglich widerzugeben. Das umso mehr, als nicht jedes anwesende Presseprodukt seine Aussage erwähnt.
Ermittlungstechnische Widersprüche
Mit ihr wird der langen Liste ermittlungstechnischer Widersprüche ein weiteres Beispiel hinzugefügt:
- Keine Fingerabdrücke und relevante DNA-Spuren des angeblichen Attentäters Anis A. in der LKW-Kabine. Stattdessen mehrere ungeklärte DNA-Spuren. Mit wem sie abgeglichen wurden und mit wem nicht, ist bisher ein Geheimnis.
- Das Video von Anis A. in der Unterführung am Bahnhof Zoo zeigt, dass er nicht etwa zu U-Bahn hinunter geht, um zu fliehen, sondern - im Gegenteil - sich nach oben und Richtung Tatort begibt.
- Woher die Tatpistole kam, mit der der polnische Speditionsfahrer erschossen wurde und die Anis A. in Italien mit sich führte, kann das BKA nicht sagen. Dennoch erklärt es eine DNA-Spur von dessen Wohnungsgeber Kamel A. an der Waffe als Zufall, Kamel A. habe mit dem Anschlag nichts zu tun.
- Ernstzunehmende Hinweise auf eine Tatbeteiligung des Namensvetters Soufiane A. werden verworfen und der mögliche Mittäter damit geschützt.
- Wie ein Handy des tunesischen Beschuldigten in ein Loch in der LKW-Karosserie kam, kann kein Kriminalist erklären.
- Die drei Nächte und 30 Stunden der dreitägigen Flucht von Anis A. sind für die Ermittler nach wie vor weiße Flecken.
- Rätselhaft ist, warum der in Italien Getötete kein Handy bei sich gehabt haben soll, während ein Zeuge zwei Tage vorher in Deutschland eines bei ihm gesehen hat.
- Die Bundesanwaltschaft hat ein Stimmen-Gutachten in Auftrag gegeben, um zu klären, ob es sich bei der Person, die im Tat-LKW mit einem Vertreter des IS telefoniert hatte, um Anis A. gehandelt habe. Ein Ergebnis dieses Gutachtens ist bisher nicht bekannt.
- Am Lützowplatz in Berlin wurde ein Handy des polnischen Speditionsfahrers gefunden. Der Ort passt nur schwerlich mit der Anfahrtsroute des LKW auf den Breitscheidplatz zusammen. Das BKA hat für den Fund keine plausible Erklärung.
- Welches Wissen von den V-Leuten der Polizei und des Verfassungsschutzes in die Ermittlungen einflossen, wird bisher verschwiegen.
- Die zwei langjährigen Bekannten Bilel Ben Ammar und Anis A.s Zimmermitbewohner Khaled A. waren nach dem Anschlag tagelang untergetaucht. Als man ihnen habhaft werden konnten, wurden sie nur gefragt, ob sie mit dem Anschlag etwas zu tun hatten, was sie - Überraschung! - verneinten. Die naheliegende Frage, wo oder bei wem sie die Tage seither waren, wurde nicht gestellt. Die Geodaten ihrer Handys wurden nicht ausgewertet.
Überhaupt: Die Befragungen von Kontaktpersonen hätten durch die Bank ergeben, so das BKA, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun gehabt hätten, dass sie von Anis A. keine Anschlagspläne mittels eines LKW gehört hätten, dass sie keine Waffe bei ihm gesehen hätten. Was denn sonst? Erwarten die Ermittler ernsthaft, dass mögliche Mitwisser, Unterstützer oder Beteiligte freiwillig erklären: "Ja, wir waren dabei, ja, wir wussten davon."?
Auch diese Herangehensweise des BKA ist aus den Ermittlungen zur NSU-Mordserie bekannt. Wenn Personen aus dem Umfeld des NSU verneinten, dass sie Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe kannten oder Kontakt zu den dreien hatten, nahm das BKA das für bare Münze. Zumindest tat es so, denn kriminalistische Professionalität kann man der obersten Polizeibehörde der Bundesrepublik nicht absprechen.
Eher handelt es sich um eine Verhinderungsmethode, die sich jetzt beim Anschlag vom Breitscheidplatz wiederholt. Allen Widersprüchen zum Trotz erklären BKA-Verantwortliche roboterhaft, es sei alles ermittelt, jeder Stein umgedreht und alles handwerklich sauber gelaufen. So wie jetzt im Abgeordnetenhaus von Berlin Kriminaldirektor Dominik Glorius, der nach dem Anschlag die Zentrale Ermittlungsgruppe des BKA leitete.
Das ist in gewisser Weise eine Respektlosigkeit den Parlamentariern gegenüber, die in gründlicher und akribischer Arbeit einen Widerspruch nach dem anderen, eine Ermittlungslücke nach der anderen, eine Unterlassung nach der anderen aufdecken. In den Auftritten des BKA-Führungspersonals muss man vor allem aber ein politisches Verhalten sehen: Am Deutungsmonopol des Sicherheitsapparates darf nicht gerüttelt werden.
Warum funktioniert das? Die Frage geht an die Politik und die Medien.