Welche Identität ist die wahre?
Europas Gesellschaften sind gespalten: Zwei unversöhnliche Meinungsblöcke trennt die Frage, wer "zu uns" gehört. Hierzulande sind allerdings beide zusammen in der Minderheit
In Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern ist die Gesellschaft gespalten. Das ergab eine Umfrage des Universität Münster, die unter 5.011 Menschen in Deutschland, Frankreich, Polen und Schweden durchgeführt wurde. In all diesen Ländern haben sich zwei verfestigte Lager mit extrem gegensätzlichen Haltungen gebildet. Damit sei "erstmals empirisch eine identitätspolitische Spaltung europäischer Gesellschaften" nachgewiesen worden, heißt es in einer Erklärung der Universität. In Deutschland gehört aber demnach die Mehrheit der Bevölkerung zurzeit keinem der beiden verfestigten Lager an.
"Wer gehört zu unserem Land, wer bedroht wen, wer ist benachteiligt? Über alle Identitätsfragen dieser Art hinweg, zeigen die ersten Auswertungen der Erhebung eine neue Konfliktlinie zwischen den beiden Gruppen, die fast spiegelbildliche Meinungen zeigen. In Identitätsdebatten haben sich die Meinungen scheinbar unvereinbaren Konfliktpositionen verhärtet", sagte Mitja Back, Professor der Psychologie und Sprecher des Forscherteams.
"Verteidiger" und "Entdecker"
In Deutschland werden etwas mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung einer der beiden "verfeindeten" Gruppen zugerechnet, in Frankreich ist es ein Viertel, in Schweden ist mit 44 Prozent fast jeder Zweite Teil einer solchen Gruppe zuzurechnen - und in Polen sind es 72 Prozent. Die Wissenschaftler nennen die beiden Lager "Verteidiger" und "Entdecker". In Deutschland zählen zur ersten Gruppe etwa 20 Prozent und zur zweiten 14 Prozent, in Schweden zählen 29 Prozent zu den "Verteidigern" und 15 Prozent zu den "Entdeckern".
Die "Verteidiger" vertreten eher die Haltung: Zum eigenen Land gehört nur, wer in diesem Land geboren wurde, Vorfahren der ethnisch-nationalen Mehrheit hat oder zumindest der dominanten Religion angehört. Sie verteidigen damit traditionelle Kriterien wie ethnische und religiöse Homogenität. Gleichzeitig fühlen sie sich von Fremden wie Muslimen und Geflüchteten bedroht sowie selbst benachteiligt. Sie misstrauen den politischen Institutionen und seien unzufriedener mit der Demokratie.
Die Gruppe der "Entdecker" lehnt dagegen ethnisch-religiöse Kriterien für die Zugehörigkeit ab, sie fühlen sich nicht von Fremden bedroht, sondern empfinden Zuwanderung und wachsende Vielfalt als Chance und plädieren für eine Gesellschaft mit vielen gleichberechtigten Lebenskonzepten. Nur in Polen fühlen sich auch die "Entdecker" benachteiligt und sind unzufrieden mit der Demokratie und der Regierung.
Auch in kultureller, religiöser, psychologischer und sozialer Hinsicht unterscheiden sich die Gruppen stark: In allen Ländern sind "Verteidiger" weit heimatverbundener und religiöser als "Entdecker". Erstere zeigen zudem eine stärkere Präferenz für gesellschaftliche Hierarchien und weniger Vertrauen in andere Menschen, Letztere umgekehrt. Auch sind "Entdecker" eher jung, hoch gebildet, sie wohnen eher in der Stadt und sind eher nicht von sozioökonomischer Not betroffen. "Verteidiger" finden sich eher als Entdecker unter den Älteren und niedrig Gebildeten, außer in Polen. Sie wohnen eher ländlich und haben nach eigener Aussage, außer in Polen, einen niedrigen sozialen Status.
Ein zunehmender Konflikt zwischen beiden Gruppen scheint vorprogrammiert zu sein. Denn, so heißt es in der Studie, die "Verteidiger" transformierten ihr Bedürfnis nach Sicherheit zunehmend in eine aggressive Grundhaltung gegenüber Fremden und gegenüber den "Entdeckern", was bei Letzteren die Wahrnehmung stärkt, die "Verteidiger" seien fremdenfeindlich. Doch die "Entdecker" würden ihre Ziele und Vorstellungen von Diversität und maximaler Offenheit auch immer vehementer umsetzen wollen.
Dabei berücksichtigten sie aber auch immer weniger, "dass diese Forderungen für die Lebenswirklichkeit anderer Gruppen in der Bevölkerung zum Teil nur eine untergeordnete Rolle spielen und/oder als grundlegende Ablehnung sicherheits- und stabilitätsorientierter Lebenskonzepte aufgefasst werden können".
"Psychologische Bedürfnisse beider Seiten ernst nehmen"
Leicht dürfte es nicht werden, den Konflikt zu lösen. Im Gegensatz zu eher materiell basierten Konflikten sei der um die Identitäten nur schwer verhandelbar, sagte Mitja Back. Das gelte erst recht dann, wenn Identitätsvorstellungen religiös oder fundamentalistisch gerahmt würden. Verfestigt werde er auch "durch Globalisierungseffekte wie Migration, zunehmend supranationale statt nationaler Politiken und Krisen wie die Finanzkrise oder die Covid 19-Pandemie", so Back. "Da stellen sich Identitätsfragen, wer zum Land gehört oder Bedrohungsgefühle auslöst, umso dringlicher."
Statt für eine Seite Partei zu ergreifen, gelte es, die zugrundeliegenden psychologischen Bedürfnisse beider Seiten ernst zu nehmen, und die teils weit auseinanderliegenden Positionen auf ihren funktionalen Kern zurückzuführen. "So lässt sich herausfiltern, welche Positionen für jede Gruppe nicht aufgebbar sind und welche verhandelbar", so Back. Nur so lasse sich eine Grundlage für Kompromisse finden sowie Raum für einen Dialog ohne Abwertung. Dagegen habe es weder in liberalen Demokratien noch in autoritär geführten Ländern zum Ziel geführt, Bewegung in verkrustete Konflikte zu bringen, wenn sich die Regierung auf eine der beiden Seiten schlage.
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