Welche Wege führen aus der Krise?
Seite 2: Der systemimmanente Therapieversuch: Eine neue Schlüsselindustrie muss her!
- Welche Wege führen aus der Krise?
- Der systemimmanente Therapieversuch: Eine neue Schlüsselindustrie muss her!
- Der saubere Schnitt: Die Suche nach Systemalternativen
- Von Marx-Maschinen, Commons und einer Partizipativen Ökonomie
- Auf einer Seite lesen
Wollte der Mensch tatsächlich in die Rolle des berühmten "Arztes am Krankenbett des Kapitalismus" schlüpfen, so hätte nur eine Therapie - wenn auch bescheidenste - Aussichten auf Erfolg. Nur das Aufkommen einer neuen Schlüsselindustrie, die massenhaft Beschäftigung generiert und Möglichkeiten zur Kapitalverwertung eröffnet, könnte die derzeitige Krisendynamik durchbrechen und zur vorläufigen Stabilisierung der Reproduktion der avancierten kapitalistischen Gesellschaftsformationen beitragen. Die gesamtgesellschaftliche Anwendung dieser neuen Schlüsseltechnologie dürfte gerade nicht vermittels massiver Rationalisierungsschübe zum weiteren Abbau von Arbeitsplätzen führen, wie bei der Mikroelektronik und der Informationstechnologie, sondern sie müsste durch zusätzliche Nachfrage stimulierend auf andere Sektoren wirken. Dieser Zusammenhang wird - wenn auch ideologisch verzerrt - ebenfalls in den Massenmedien wahrgenommen:
Die US-Wirtschaft könnte sicher ein Next Big Thing gebrauchen. Etwas in den Ausmaßen der Eisenbahn, des Automobils oder des Internet - die Art von Durchbruch, der immer wieder auftaucht und Industrien schafft, Arbeitsplätze generiert und Vermögen schafft.
Innerhalb der amerikanischen Regierung gibt es auch zaghafte Pläne, ein solches "Großes Ding" ausgerechnet auf dem "Ground Zero" der im Abstieg befindlichen Automobilindustrie, in der ehemaligen Autostadt Detroit, zu initiieren:
Präsident Obama hat einen Plan: Die Krisengegend um Detroit, wo der Untergang der Auto-Riesen eine Trümmerlandschaft hinterlassen hat, soll zum Zentrum der alternativen Energiegewinnung werden. Fabriken, in denen einst Wagen vom Fließband rollten, sollen Windmühlenflügel und Solarzellen herstellen.
Neben der Entstehung massenhafter Arbeitsplätze bei der Kapitalverwertung und den belebenden gesamtwirtschaftlichen Effekten müsste ein solcher neuer Leitsektor der Ökonomie mit dem Aufbau einer gänzlich neuen Infrastruktur einhergehen. Dies ist auch einer der Gründe, wieso die Autoherstellung bis in die Siebzigerjahre hinein in nahezu allen Industrieländern die Rolle einer solchen Schlüsselposition in der Wirtschaft einnahm. Mit der Automobilmachung (Robert Kurz) unserer Gesellschaft ging ein umfassender infrastruktureller Umbau der kapitalistischen Volkswirtschaften einher: vom Zupflastern ganzer Landstriche mit Autobahnen über den Aufbau eines Händler-, Werkstatt- und Tankstellennetzes bis hin zur Schaffung augedehnter Parkplatzwüsten in unseren Städten.
Die einzige derzeit in einem "embryonalen" Stadium befindliche Technologiegruppe, die als eine künftige Schlüsselindustrie zum Träger einer langen Konjunkturwelle im Sinne Kondratjews avancieren könnte, bilden die unterschiedlichen Formen alternativer und regenerativer Energiegewinnung. Bei einer forciert betriebenen konsequenten Umstellung der energetischen Basis der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften würde tatsächlich ebenfalls ein umfassender Umbau und Aufbau einer neueren Infrastruktur im Energiesektor stattfinden, der - selbst bei dem derzeitigen Stand der Produktivität - ein enormes Beschäftigungspotenzial birgt.
Auf den ersten Blick scheinen sich also alle jene politischen Kräfte durchaus im recht zu befinden, die gerade im angelsächsischen Raum in Anlehnung an den New Deal des US-Präsidenten Roosevelt einen "Green New Deal" fordern, in dessen Rahmen mittels staatlicher Subventionen und Konjunkturprogramme die Herausbildung eines solchen neuen Industriesektors alternativer und regenerativer Energien gefördert werden soll.
Und hier liegt genau der Knackpunkt dieser Krisenstrategie des Green New Deal. Ein solcher Aufbau und Umbau der Infrastruktur des Energiesektors müsste größtenteils aus Steuermitteln gestartet werden, da dies nicht im Rahmen gewöhnlicher Kapitalakkumulation vonstatten gehen kann. Auch während des "Goldenen Zeitalters des Kapitalismus" in den 1950er und 1960er Jahren waren es die Staaten, die dank sprudelnder Einnahmen aus der boomenden Wirtschaft den infrastrukturellen Aufbau der Verkehrssysteme finanziell bewältigen konnten.
In der derzeitigen Krisensituation entschieden sich aber die meisten Regierungen dafür, die bereits bestehenden und aufgrund enormer Produktivitätssteigerungen und gesättigter Märkte in ihrer gesamtökonomischen Relevanz abnehmenden Industriezweige - hier vor allem die Automobilindustrie - zu subventionieren. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft stellte fest, dass die Weltwirtschaftskrise gerade dazu diene, einen solchen grünen Strukturwandel der Ökonomie auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben:
Auch die in den weltweit aufgelegten Konjunkturpaketen enthaltenen Maßnahmen mit klimapolitischer Stoßrichtung tragen nicht nennenswert zur Senkung der Treibhausgasemissionen bei... Die Krise dient als Vorwand für den Verzicht auf einen "grünen" Strukturwandel und vermindert selbst in der EU die Zahlungsbereitschaft für einen globalen Klimafonds.
Die berüchtigte deutsche Abwrackprämie, bei der fahrtüchtige Fahrzeuge verschrottet wurden, um unter enormen Energieaufwand neue PKWs herstellen und subventioniert verkaufen zu können, wurde zu einem neuen deutschen Exportschlager, der in vielen weiteren Ländern zur Anwendung gelangte. Diese Industrie erstickt aber geradezu an gesättigten Märkten und beständig steigender Produktivität, wie Dietmar H. Lamparter am 16.10.2008 in der Zeit erläuterte:
Die Crux an der Situation: Selbst wenn die deutschen Hersteller die Verkäufe ihrer Fahrzeuge konstant halten können, wächst mit jedem neuen Modell der Druck auf die Arbeitsplätze. Die Produktivität beim Wechsel von Golf V auf Golf VI sei in Wolfsburg um mehr als 10 Prozent und in Zwickau sogar um mehr als 15 Prozent gestiegen, verriet ein stolzer VW-Chef Winterkorn bei der Präsentation der Neuauflage des wichtigsten Konzernfahrzeugs. Das bedeutet, dass für die Montage der gleichen Zahl von Autos 15 Prozent weniger Leute nötig sind. Wenn also vom Golf VI nicht entsprechend mehr abgesetzt wird, sind Jobs in Gefahr. Genauso läuft es bei neuen Modellen von BMW, Mercedes oder Opel. Teilweise werden dort Produktivitätssprünge von 20 Prozent erzielt.
Die Politik entschied sich für eine Subventionierung dieser bestehenden, im Niedergang befindlichen Industrien aus einem schlichten Grund: Die entsprechenden Konzerne und Unternehmen verfügen über genügend Einfluss, um ihre Interessen durch Lobbytätigkeit durchzusetzen. Es liegt in der "Natur" des kapitalistischen Politikbetriebs, dass Industriezweige, die erst im Entstehen sind, über solche Einflussmöglichkeiten auf die Politik nicht verfügen. Wie die um sich greifende Krise der Staatsfinanzen unter Beweis stellt, haben die meisten Regierungen der Industrieländer ihr konjunkturelles Pulver bereits verschossen - die globale Neuverschuldung, die allein aufgrund der diversen Konjunkturpakete entstand, wird auf nahezu 5 % der globalen Wirtschaftsleistung veranschlagt.
Ein weiteres umfassendes Konjunkturprogramm können sich die meisten ohnehin finanziell in Schieflage geratenen Staaten schlicht nicht mehr leisten. Denkbar wäre höchstens eine massive Erhöhung von Vermögens- oder Reichensteuern, mittels derer weitere Finanzmittel mobilisiert werden könnten. Allein schon die Rücknahme der unter "Rot-Grün" an Unternehmen und Spitzenverdiener verteilten Steuergeschenke würde einen zweistelligen Milliardenbetrag jährlich zusätzlich in die Kassen von Bund und Ländern spülen. Doch diese Option wird in der veröffentlichten Meinung nicht mal ansatzweise diskutiert.
Nicht nur die machtpolitischen Konstellationen stehen aber einem "Green New Deal" im Wege. Es ist auch klar, dass bei der Produktion der alternativen Energiequellen niemals solch hohe Beschäftigungseffekte erzielt werden können, wie sie im Zuge der Automobilmachung des Kapitalismus in den Fünfzigern oder 60 Jahren erzielt werden konnten. Solarzellen und Windkrafträder werden effizient nicht in der Art und Weise produziert, wie Autos vor 40 Jahren, als Tausende von Proleten im Schweiße ihres Angesichts auf endlosen Montagebändern in genau festgelegten Zeitintervallen stupide Handgriffe tätigten, um nach Hunderten von Arbeitsschritten - die je ein Arbeiter ausführte - ein Fahrzeug herzustellen. Bei dem heutigen allgemeinen Stand der Automatisierung der Produktion gelten tendenziell auch für die Herstellung alternativer Energiequellen ähnliche Probleme der "Überproduktivität", wie sie oben von Dietmar H. Lamparter im Fall der Automobilindustrie geschildert wurden.