Weltordnung in Scherben
Die Münchner Sicherheitskonferenz ist ein Spiegelbild der Konflikte der kapitalistischen Welt - Kommentar
In den Erklärungen rund um die Konferenz finden sich ständig Formulierungen von der alten multinationalen Welt, die in Scherben liege, von einer Welt im Umbruch und voller Konflikte. Exemplarisch ist eine Einschätzung aus dem Auswärtigen Amt:
Die Kriege in Jemen und Syrien, der Rückzug Russlands und der USA aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag), die Lage in Venezuela: Die Liste der internationalen Krisenherde ist lang. In diesem Jahr stehen aber nicht nur einzelne internationale Herausforderungen im Mittelpunkt der 55. Münchner Sicherheitskonferenz. Die multilaterale Ordnung insgesamt steckt in ihrer vielleicht tiefsten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Auswärtiges Amt
In diesen Zeilen spiegeln sich gut die Ängste und Befürchtungen der deutschen Eliten. Die Zeit, in der sie enge Verbündete der USA waren und in Front zum nominalsozialistischen Lager standen, sind lange vorbei. Letzteres ist längst zerfallen und die Interessengegensätze zwischen der USA und der von Deutschland dominierten EU sind nicht erst unter Trump massiv gewachsen.
Der Mythos von der deutsch-französischen Freundschaft
Aber auch innerhalb der EU stößt der deutsche Hegemonieanspruch auf Widersprüche. Einige der in München Anwesenden sind direkt aus der polnischen Hauptstadt Warschau angereist. Dort trafen sich Politiker der EU, der USA und Israels, um Allianzen gegen die Islamische Republik Iran zu schmieden. Aus Deutschland war niemand anwesend.
Die Konferenz widersprach den Interessen der deutschen Eliten, die auch nach der Aufkündigung der Vereinbarungen durch die USA enge Kontakte zum Iran anstreben. Für manche der in Warschau versammelten ist das Appeasement gegenüber dem islamistischen Regime des Iran. Es geht hier ganz klar um gegensätzliche Interessen und es ist keineswegs sicher, ob sich die Linie Deutschlands in der EU durchsetzt.
Doch auch der Mythos von der deutsch-französischen Freundschaft als Motor der EU wurde in diesen Tagen kräftig dekonstruiert. Es hat sich doch einmal mehr die Erkenntnis durchgesetzt, dass es zwischen Staaten Interessen und keine Freundschaften gibt. Der Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland um die Pipeline Nord Stream mag offiziell beigelegt sein, sie hat aber vor Augen geführt, dass die schönen Reden über die deutsch-französische Freundschaft ein Mythos sind.
Es handelt sich eben um zwei kapitalistische Staaten mit gemeinsamen, aber auch mit divergierenden Interessen. Da gibt es Momente der Kooperation, wenn die Eliten beider Länder zu der Erkenntnis gekommen sind, dass so die eigenen Interessen besser umgesetzt werden können. Genau so gibt es aber Absatzbewegungen und Konflikte zwischen den Ländern, weil es eben auch genug unterschiedliche Interessen gibt. Die wurden nicht nur in der Causa Nord-Stream zwischen Deutschland und Frankreich deutlich.
Dass nun auch noch der französische Präsident in München fehlte und es daher den Verantwortlichen der Sicherheitskonferenz nicht möglich war, eine neue deutsch-französische Freundschaft zumindest zu simulieren, kann durchaus Kalkül sein. Es ist zumindest wenig wahrscheinlich, dass die innenpolitischen Konflikte Macron hindern, einen Kurztrip von Paris nach München zu unternehmen.
Wenn also die Organisatoren der Münchner Konferenz von einer Weltordnung in Scherben reden, drücken sie die Situation des Herrschaftsprojekts Deutschland aus. Die Hegemonie in der EU wird sogar von Frankreich infrage gestellt, man steht in Konkurrenz sowohl zu Russland, China und den USA.
Hofberichterstattung über eine Person von gestern
Die Verunsicherung der deutschen Eliten kann man auch in führenden Zeitungen nachverfolgen. Da liest man in der FAZ einen Bericht über den Merkel-Auftritt in München und fragt sich, was hat der Autor geraucht hat, als er einen solchen Herrschaftskitsch zu Papier brachte:
"Und Du denkst, Dein Herz schwappt Dir über", singt Herbert Grönemeyer über jene einzigartigen Momente, die einen euphorisieren. Der Beginn des Frühlings. Die Vorfreude auf einen geliebten Menschen. Wenn sich alles leicht anfühlt und am richtigen Platz. Dass ausgerechnet Angelika Merkel am Samstagmorgen bei zahlreichen Teilnehmern der Münchner Sicherheitskonferenz mehrfach dieses Sekundenglück auslöste, lag gewiss an der komplexen Weltlage, die vielen wie Blei auf der Seele liegt. Aber vor allem lag es an ihr selbst.
Lorenz Hemiker, FAZ
Hätte eine russische Zeitung einen Putin-Auftritt auf diese Weise beschrieben, wäre ein solcher Beitrag zum berechtigten Gegenstand von Hohn und Spott geworden. Doch es ist auch in Deutschland ein Zeichen für ein angeschlagenes Herrschaftsprojekt, wenn eine Zeitung, die sonst eigentlich eher nüchtern über Interessen schreibt, in krudesten Herrschaftskitsch verfällt.
Doch ein solch angeschlagener Imperialismus ist auch gefährlich. Denn es ist ja nicht nur das deutsche Herrschaftsprojekt, das die Orientierung verloren hat. Nur haben die deutschen Eliten ihre Interessen am ehesten im Multilateralismus vertreten gesehen. Doch das von Peter Altmaier vorangetriebene Projekt einer deutschen Industriepolitik, die man auch durchaus unter der Parole "Deutschland zuerst" zusammen fassen kann, macht auch die Grenzen eines von Deutschland vorangetriebenen Multilateralismus deutlich.
Die kapitalistische Welt ist aus den Fugen wie vor 100 Jahren
Deswegen sollten wir das ganze Lamento über eine Welt aus den Fugen ebenso wie den Merkel-Kitsch in der FAZ vor dem Kontext einer kapitalistischen Welt sehen, die sich, wie vor 100 Jahren, wieder um Absatzmärke sowie um die knapper werdenden Bodenschätze streitet. Deshalb sind heute Kriege wahrscheinlicher als noch vor 30 Jahren, als der Ost-West-Konflikt den Kapitalismus zivilisiert hatte.
Daher ist es angebracht, mal wieder einen Blick in die Texte von politischen Theoretikerinnen und Theoretikern der damaligen Arbeiterbewegung zu werfen, die wie Rosa Luxemburg vor und während des 1. Weltkrieges mit einer Klarheit die kapitalistische Welt in Scherben beschrieben haben, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben.
Wenn man heute Texte auch in linken Medien liest, die auch in Bezug auf die Münchner Konferenz die Devise ausgeben, ein solches Treffen ist besser als gar kein Treffen, weil hier zumindest Politiker aus unterschiedlichen Konfliktzonen aufeinandertreffen, dann fallen einem die Texte ein, in der diese Illusionen schon damals klar benannt worden sind.
Einen gravierenden Unterschied zwischen der Situation von vor 100 Jahren und der Gegenwart gibt es allerdings und der lässt wenig Raum für Optimismus. Vor 100 Jahren bestand mit der Arbeiterbewegung eine politische Kraft, die zumindest potentiell diese kapitalistische Welt in Scherben im emanzipatorischen Sinne aufheben wollte. Heute fehlt eine solche Kraft weitgehend. Die Demonstration von ca. 3500 Kritikern der Sicherheitskonferenz in München zeigt die Kontinuität eines Protestes, dem es aber nicht gelingt, die Massen zu ergreifen.