Weltrekord im Kosmos der Teilchen

Bald sind differenzierte Beobachtungen von vielen Teilchen-Interaktionen auf verschiedenen Zeitskalen möglich

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Deutsche Physiker veröffentlichen in der vorliegenden Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature ihre Forschungsergebnisse zum Aufbau von Vielteilchen-Wechselwirkungen und der ultraschnellen Messungen von elektromagnetischen Feldern.

Elektron-Loch Plasma aus negativen und positiven Punktladungen. Die Hyperfläche stellt die tatsächlichen Terahertz-Meßdaten dar, die den Aufbau der Coulomb-Abschirmung und der kollektiven Effekte im Vielteilchensystem beschreiben (Bild: TU München)

Rupert Huber, Florian Tauser, Andreas Brodschelm, Alfred Leitenstorfer vom Physik-Department und Max Bichler sowie Gerhard Abstreiter vom Walter-Schottky-Institut der Technischen Universität München in Garching ist es gelungen, einen der schnellsten in der Natur ablaufenden Vorgänge erstmals zeitaufgelöst zu beobachten. Sie konnten den Aufbau von kollektiven Wechselwirkungen in einem dichten Plasma aus frei beweglichen Ladungsträgern in einem Halbleiterkristall so direkt experimentell überprüfen. Bei dem Experiment wurden hochreine Halbleiterschichten aus Galliumarsenid studiert. Diese Materialien werden normalerweise für extrem schnelle elektronische Bauelemente wie Halbleiter-Transistoren oder Laserdioden eingesetzt. Die feldaufgelöste Messung der deutschen Wissenschaftler ist ein Weltrekord im Kosmos der Teilchen.

Partikel kommen selten vereinzelt und frei vor, meist sind sie Teil von kondensierter Materie und sie verhalten sich dann völlig anders als wenn sie unbeeinflusst von anderen Partikeln oder den Feldern um sie herum untersucht werden. Aus "nackten" (Englisch: "bare") Teilchen werden durch diesen Anzieh-Prozess ("dressing process") Teilchen, die sich anders benehmen. Das Phänomen ist bekannt, die Partikel werden dann wegen ihres abweichenden Verhaltens als "Quasi-Teilchen" bezeichnet, bisher war es aber nicht möglich, ihre Bewegungen und ihre Interaktion mit der Umgebung direkt zu beobachten. Die Anforderung an die Geschwindigkeit ist enorm, denn die Reaktionen laufen ungeheuerlich schnell ab: es geht um Zeitspannen von nur wenigen Femtosekunden. Eine Femtosekunde ist ein Millionstel einer Milliardstel Sekunde. Das entspricht der extrem kurzen Zeitspanne, in der sich selbst Licht (Vakuumlichtgeschwindigkeit c = 300000 km/s) nur um die winzige Distanz von 300 Nanometern ausbreitet.

Das Physiker-Team um Huber konnte nun diese Vorgänge erstmals direkt beobachten. Sie entwickelten eine innovative, infrarotempfindliche Zeitlupenkamera mit extrem hoher Zeitauflösung. Vorgänge, die innerhalb von nur wenigen Femtosekunden ablaufen, können damit direkt verfolgt und fest gehalten werden. Die Anlage, die nach dem Prinzip eines schnellen Stroboskops funktioniert, basiert auf hochspeziellen Ultrakurzzeit-Lasersystemen. Die Münchner Forschergruppe erzeugte die kürzesten bislang gemessenen Lichtimpulse im mittelinfraroten Spektralbereich (Wellenlängen um 10 Mikrometer) mit Impulsdauern von weniger als 30 Femtosekunden. Dies entspricht nur einer einzigen Lichtschwingung.

Huber und Kollegen erklären ihr Verfahren:

Mithilfe des dabei verwendeten Detektionsverfahren, dem so genannten elektro-optischen Abtasten, lässt sich auf der Femtosekunden-Zeitskala infrarotes Licht als zeitlich oszillierende Welle des elektrischen Feldes wahrnehmen. So können Frequenzen elektromagnetischer Wellen bis über 100 Terahertz, entsprechend einhundert Billionen Schwingungszyklen pro Sekunde, direkt feldaufgelöst gemessen werden. Das ist Weltrekord. (...) Durch optische Anregung mit einem kurzen Laserlichtblitz kann innerhalb von 10 Femtosekunden ein dichtes Plasma aus frei beweglichen Elektronen (elektrisch negativ geladen) und Löchern (fehlende Elektronen mit effektiv positiver Ladung) im Halbleiterkristall erzeugt werden. Unter dem Einfluss gegenseitiger elektrostatischer Anziehung bzw. Abstoßung arrangieren sich die Teilchen derart im Raum, dass Elektronen tendenziell von einer positiv geladenen Wolke aus Löchern umgeben werden und umgekehrt. Man spricht in diesem Zusammenhang von Abschirmung.

Nahansicht des Terahertz-Experiments für die Messungen zum Aufbau von Quasi-Teilchen. Der hellrote Bereich markiert den Ort, an dem ein nah-infraroter 10-fs-Lichtimpuls in einen optisch-nichtlinearen GaSe-Kristall fokussiert wird, um eine einzige Lichtschwingung im mittleren Infrarot zu generieren. Dieser Terahertz-Transient wird mittels goldbeschichteter Parabolspiegel auf die GaAs-Halbleiterprobe gelenkt, deren Fassung in der rechten unteren Ecke sichtbar ist. (Bild: TU München)

Mit dieser ultraschnellen Messung konnten die Physiker beweisen, dass diese Abschirmung nicht sofort im Plasma auftritt, sondern sich mit einer gewissen Verzögerung innerhalb von etwa 100 Femtosekunden aufbaut. Die Frage nach der Geschwindigkeit dieses Vorgangs ist seit Jahren Gegenstand intensiver theoretischer Diskussionen. Die Wissenschaftler aus Deutschland hatten schon seit mehreren Jahren enge Kontakte mit einigen der internationalen Theoriegruppen, die eine derartige Zeitspanne in der Reaktion auf der Basis der Quantenkinetik vorher gesagt hatten.

Die Ergebnisse der Münchener sind wahrscheinlich von interdisziplinärer Bedeutung, denn es wird vermutet, dass ähnliche Vorgänge auch in ganz anderen Bereichen der Natur eine zentrale Rolle spielen, wenn elementare Vielteilchen-Systeme im extremen Nichtgleichgewicht sind. Als Beispiele gelten die Kollision von Atomkernen in Beschleunigern oder sehr schnelle chemische Katalysereaktionen an Metalloberflächen.

In seinem begleitenden News&Views-Artikel in der gleichen Ausgabe von Nature zeigt sich Hartmut Haug von der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt (Johann Wolfgang Goethe-Universität) beeindruckt:

Huber und Kollegen berichten hier die erste direkte experimentelle Beobachtung des Anziehens [dressing] geladener Teilchen innerhalb einer ultraschnellen (Femtosekunden) Zeitskala. Bei dieser Zeiteinteilung (eine Femtosekunde entspricht 10 hoch -15 Sekunden, was bedeutet, sie ist zu einer Sekunde das, was eine Sekunde zu 32 Millionen Jahren ist) ist es klar, dass der Anziehprozess [dressing process] nicht unmittelbar geschieht, sondern eine kurze Zeitperiode in Anspruch nimmt, wie es die quantenkinetische Theorie vorgeschlagen hat. Diese Technik bahnt den Weg zu neuen Experimenten, die differenzierte Beobachtungen von vielen Teilchen-Interaktionen auf verschiedenen Zeitskalen ermöglichen werden.