Wendet sich die Türkei vom Westen ab?

Nachdem der türkische Ministerpräsident Erdogan den mit Internationalem Strafbefehl wegen Völkermords gesuchten sudanesischen Präsidenten al-Baschir verteidigt hat, ist davon die Rede, dass sich die Türkei islamisieren könnte

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Seit dem Eklat von Davos (Mittagessen oder Krieg?) und Erdogans jüngsten Äußerungen zum Darfurkonflikt, in dem er den mit internationalem Haftbefehl gesuchten sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir mit der fragwürdigen Aussage in Schutz nahm, dass „ein Muslim keinen Völkermord begehen kann“, ist die Rede von einer „Entfremdung der Türkei von Europa“. Einige politische Beobachter greifen damit auf alte Klischees von einer rückständigen Türkei, die der Gefahr ausgesetzt sei, sich zu „islamisieren“, zurück. Es ist die Rede vom „gemäßigten Islamisten Erdogan“. Erdogan bezeichnet sich selber als gläubigen Muslim, daraus macht er auch keinen Hehl. Aber ist man dann schon per se ein Islamist? Wer ist überhaupt Islamist?

Wenn man sich die bisherige Politik der AKP anschaut, ist von einer "schleichenden Islamisierung" nichts zu erkennen. Erdogan hat aus früheren Fehlern unter seinem Mentor Necmettin Erbakan gelernt. Er hat eingesehen und erkannt, dass eine ideologisch gefärbte Politik dem Land nicht dienlich ist. Obwohl er gläubiger sunnitischer Muslim ist, setzt er sich für mehr Religionsfreiheit für die alewitische Bevölkerung in der Türkei ein.

Wenn man sich die Entwicklung in der Türkei seit dem Machtantritt der AKP genauer anschaut, sieht man, wie viel Weg die Türkei in Sachen Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte bereits zurück gelegt hat, auch wenn noch vieles zu verbessern ist. Bis vor einigen Jahren war es noch ein Tabuthema, überhaupt die Existenz der Kurden zu erwähnen. Bis vor kurzem war nicht die Rede von einem Kurdenproblem, sondern von einem „Terrorproblem“. Heute spricht sogar der Ministerpräsident von „seinen kurdischen Mitbürgern“. Symbolisch hat dies eine enorme Bedeutung.

Erdogan riskiert sehr viel, wenn er den demokratischen Öffnungsprozess forciert. Er riskiert damit in erster Linie seine klare parlamentarische Mehrheit, und es wird sich zeigen, ob er bei den nächsten Wahlen gegen die nationalistische Stimmungsmache der Opposition bestehen kann. Besonders die ursprünglich sozialdemokratische Oppositionspartei CHP unter Deniz Baykal fällt durch faschistische Parolen auf. Letzte Woche erreichten sie ihren Höhepunkt in der Äußerung von Onur Öymen, dem stellvertretenden Vorsitzenden der CHP, dass die Massaker an den alevitischen Kurden in Dersim gerechtfertigt gewesen seien.

Trotz der nicht gerade rosigen Aussichten für eine EU-Mitgliedschaft ist die türkische Regierung gewillt, die Reformen weiter voranzutreiben. „Ob wir nun in die EU aufgenommen werden oder nicht, wir wollen und müssen die Reformen weiter vorantreiben“, sagt Erdogan. Erdogan hat immer betont, dass die EU-Mitgliedschaft zwar das Ziel der Türkei sei, aber dass sie auch ohne diese verpflichtet wäre, diese Reformen erfolgreich umzusetzen, da sie für das Land vom Vorteil seien.

Neuausrichtung der Außenpolitik

Erdogan ist ein Pragmatiker. Das erkennt man nicht nur an der Innenpolitik, sondern auch an der neuen, selbstbewussten Außenpolitik der Türkei (Die Türkei, die Friedensklinik Asiens). In den vergangenen Jahrzehnten hatte die Türkei eine passive und staatszentrierte Außenpolitik verfolgt. Der Sicherheitsaspekt spielte eine zentrale Rolle, so dass Beziehungen zum Ausland zuallererst unter dem Gesichtspunkt der möglichen Auswirkungen auf die nationale Sicherheit betrachtet wurden.

Die Außenpolitik unter der Regierung von Ministerpräsident Erdogan verfolgt einen vollkommen anderen Kurs: Nahezu idealistisch offen ging die Türkei nun im internationalen Umfeld vor. Architekt dieser Außenpolitik ist der Außenminister Ahmet Davutoglu, ein nüchterner Stratege. Wenn man die selbstbewusste Außenpolitik der Türkei als „Neo-Osmanismus“ kritisiert, darf man die besondere geopolitische Lage der Türkei nicht außer Betracht lassen. Aufgrund ihrer einzigartigen Lage wäre die Türkei schlecht beraten, wenn sie nicht versuchen würde, eine multidimensionale Diplomatie zu führen. Jahrzehntelang hatte die Türkei sehr schlechte bis gar keine diplomatischen Beziehungen zu ihren direkten Nachbarn Syrien, Iran, Armenien, Griechenland und auch Russland. Darunter hatte in erster Linie die türkische Wirtschaft gelitten. Erdogan versucht dagegen jetzt mit allen Nachbarn enge wirtschaftliche Kontakte zu knüpfen. Dabei kann die Rolle der Türkei als Vermittler besonders im Atomstreit mit dem Iran und auch im Falle von Syrien für den Westen enorm wichtig werden.

Die jüngste Äußerung Erdogans, in der er den mit internationalem Haftbefehl gesuchten sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir (Wendepunkt für die Menschenrechte und das Völkerrecht?) verteidigte, schockten natürlich die europäischen Regierungen. Aber eines darf man nicht vergessen: Erdogan steht innenpolitisch enorm unter Druck. Nationalistische Scharfmacher machen Stimmung aufgrund seiner Kurdenpolitik. Indirekt wird auch mit der PKK verhandelt, auch wenn dies nicht öffentlich zugegeben wird. Erdogan muss deswegen in dieser brenzligen Situation sein konservatives Wahlklientel bedienen, um die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren. Denn ohne diese Unterstützung wird die Lösung des Kurdenkonflikts schwer zu realisieren sein. Erdogan will seine Stammwähler aus der konservativen Ecke nicht verprellen. Er versucht, wie in Davos und durch diese fragwürdige Verteidigung al-Baschirs geschehen, sich als eine Führungspersönlichkeit zu profilieren, der die Interessen der islamischen Welt verteidigt. Sowohl in der Türkei als auch in der arabischen Welt wurde Erdogans Auftritt in Davos gefeiert. Es ist eine Gradwanderung, die Erdogan zu leisten hat.

Mehr von Eren Güvercin in seinem Blog Grenzgängerbeatz.