Wenn Abschreckung selbst zum Fluchtgrund wird
Oberverwaltungsgericht NRW untersagt vorerst Abschiebung von in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten: Dort würden "elementarste Bedürfnisse" nicht erfüllt
Das Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen hat die Abschiebung von in Griechenland als schutzberechtigt anerkannten Flüchtlingen dorthin vorerst untersagt. In einem Urteil vom 21. Januar 2021 stellte das Gericht in Münster fest, dass in Griechenland "generell die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Falle ihrer Rückkehr dorthin ihre elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können".
Hinter dem Versagen der griechischen Regierung, eine elementare Grundversorgung zu gewähren, steckt offenbar System. Einige verdienen damit sogar Geld.
Mit der Gerichtsentscheidung wurden vorausgehende Urteile niedrigerer Instanzen - der Verwaltungsgerichte Arnsberg (12 K 3440/18.A) und Düsseldorf (29 K 2705/18.A) - aufgehoben. Konkret ging es in dem Urteil um zwei Geflüchtete aus Syrien und Eritrea, die in Griechenland bereits als schutzberechtigt anerkannt und von dort aus weiter nach Deutschland geflohen waren, um hier noch einmal Asyl zu beantragen - eine logische Folge der griechischen Abschreckungspolitik. Die Regierung in Athen hat sich zum Ziel gesetzt, Flüchtlingen und Immigranten das Leben so unerträglich wie möglich zu machen. Diese Aussage wurde von Ministern mehrfach öffentlich wiederholt.
Abschreckung als Programm
Besonders charakteristisch sind die Aussagen von Adonis Georgiadis, dem Vizechef der konservativen Partei Nea Dimokratia. Als Minister ist er für Wirtschaftsentwicklung und Investitionen zuständig, allerdings lässt er keine Gelegenheit aus, sich im Fernsehen zu allen Zielen der Regierungspolitik, auch zu den Flüchtlingen zu äußern. "Sie sollen weggehen, das ist nicht rechtsradikal. Wer hat Ihnen das gesagt? Dass sie weggehen sollen ist die Meinung der Mehrheit der Griechen. Sind die Griechen rechtsradikal? Was ist das denn, was sie sagen? Sie sollen sicherlich weggehen. Wir haben sie nicht eingeladen. Sie sind von allein gekommen", erklärte er im September laut einem Bericht des Nachrichten- und Debattenportals Libre.
Bereits im Wahlkampf 2019 hatte die Nea Dimokratia keinen Hehl daraus gemacht, dass sie mit einer möglichst harten Politik der Abschreckung Flüchtende und Migranten von Einreiseplänen nach Griechenland abbringen will. Selbst gemäßigte Regierungsabgeordnete wie der Universitätsprofessor Dimitris Kairidis feiern das offizielle Narrativ. Anlässlich der Fortschritte beim Bau des Grenzzauns an der Grenze zur Türkei postete Kairidis auf Facebook ein Bild "Von Worten zu Taten: Der neue große Zaun in Evros entsteht sehr schnell. Das Foto ist aktuell und spiegelt die Fortschritte wider. Insgesamt ist die Immigration 2020 um mehr als 80 Prozent gesunken, was die enorme Verantwortung der Syriza-Regierung für das Chaos zwischen 2015 und 2019 belegt, und was es dem Erdogan-Regime ermöglichte, Europa nach Belieben zu erpressen. Wenn es den Willen und die Führungskompetenz gibt, können sich die Dinge sehr schnell und spektakulär zum Besseren ändern."
Lockdown für Flüchtlingslager, was bedeutet das?
Georgiadis hatte seinen Wählern geschlossene Lager für Asylsuchende versprochen. Im Zusammenhang mit der Pandemie konnte dieses Versprechen leichter umgesetzt werden. So befinden sich alle Flüchtlingslager im Land seit dem vergangenen März in einem Status des Lockdowns. Es ist den Insassen nur in Ausnahmefällen gestattet, das Lager zu verlassen. Während in den vergangenen Wochen Grundschulen geöffnet und Ladengeschäfte sowie Einkaufsmalls wieder eröffnet wurden, gab es für die Insassen der Lager eine weitere Verschärfung. Die absolute Ausgangssperre gilt ab 18 Uhr. Pro Woche darf das Lager für maximal drei Stunden verlassen werden, um Einkäufe, notwendige Behördengänge oder Arztbesuche zu tätigen.
Recherchen über dubiose NGO
Für Angehörige von Risikogruppen sowie für die glücklicheren Familien unter den Asylsuchenden gibt es statt des tristen Lagerlebens für die Dauer des Asylverfahrens eine Unterkunft. Für diese Unterbringung erhält der griechische Staat von der Europäischen Kommission 125 Millionen Euro. Bislang wurden diese Gelder vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) verwaltet und gelangten von da auch in die Kassen von Nichtregierungsorganisationen, die sich auf Flüchtlingshilfe spezialisiert haben. Für die griechische Regierungspartei ist dies ein zu verurteilendes Geschäftskonzept. Sie setzt alles daran, den NGOs die Arbeit in Griechenland so schwierig wie möglich, wenn nicht ganz unmöglich zu machen.
Im neuen Wohnungsprogramm ESTIA II konnte die Regierung durchsetzen, dass die europäischen Hilfsgelder nicht mehr über die Verwaltung vom UNHCR sondern direkt vom Ministerium für Migration und Asyl verteilt werden. Dass dieses zumindest fragwürdige Entscheidungen trifft, geht aus einem Bericht der sonst für regierungsfreundliche Artikel bekannten Zeitung Kathimerini hervor. Der Journalist Stavros Malichudis hat sich für das Internetmedium wearesolomon.com die Praxis der Geldverwaltung der Regierung näher angesehen. Er stieß auf eine NGO namens "Hopeland", welche von der Regierung im Oktober 2020 den Auftrag erhalten hat, knapp 1.000 Asylbewerber in Athen in Wohnungen unterzubringen. Der Gesamtauftrag beläuft sich gemäß Malichudis auf mindestens 6,5 Millionen Euro.
Wohnraumverwaltung als Geschäftsmodell?
Dieser Auftrag fußt auf der Teilnahme an einer ursprünglich am 17. Juni erfolgten öffentlichen Ausschreibung. Die Kathimerini berichtete unter Berufung auf eine Anfrage des sozialdemokratischen Oppositionspolitikers und früheren Bürgermeisters von Athen, Giorgos Kaminis, dass die Ausschreibung zweimal geändert worden sei. Schließlich, am 15 September, wurde anstelle zahlreicher vorher verlangter Nachweise lediglich die Eintragung in das NGO-Register des Ministeriums für Immigration verlangt. Dieses Register war von der Regierung eingeführt worden, um die große Zahl der vorher im Land operierenden Hilfsorganisationen zu begrenzen. "Hopeland" wurde erst am 22. September 2020 gegründet. Dadurch, dass die Steuernummer einer alten, inaktiven NGO einer der Nea Dimokratia nahe stehenden kommunalen Wählergruppe erworben wurde, konnte die neue NGO direkt nach der Gründung auf eine in der Ausschreibung vorgeschriebene mehrjährige Tätigkeit verweisen.
Die griechischen Parteien treten auf kommunaler Ebene nicht auf. Sie unterstützen aber die kommunalen Wählergruppen, die ihnen zusagen. Im Fall von "Hopeland" deckte Malichudis auf, dass deren Steuernummer vorher auch in Verbindung zu einem früheren Berater des ehemaligen Premierministers Antonis Samaras stand. Der Journalist fand zudem heraus, dass die beiden Schlüsselpersonen der NGO vollkommen fachfremd sind. Es handelt sich um eine Kosmetikerin aus Thessaloniki und einen als Fahrer tätigen kommunalen Bediensteten des Athener Vororts Maroussi.
Malichudis moniert, dass "Hopeland" im Eintragungsprozess ins Register des Ministeriums schneller aufgenommen wurde, als gut 100 weitere NGOs, die seit Jahren in der Flüchtlingshilfe aktiv sind. Pro Flüchtling und Tag kassiert "Hopeland" nun 14,75 Euro. Die Organisation hat offenbar gute Aussichten, noch mehr Asylsuchende zu beherbergen. Die notwendige Infrastruktur, - hauptsächlich AirBnB Wohnungen - wurde angemietet. Das erforderliche Verwaltungspersonal wurde nach Auftragsvergabe in Windeseile rekrutiert.
Bleiverseuchtes Lager auf Lesbos
In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln müssen die Insassen ohne ausreichende Heizung und ohne ausreichenden Zugang zu fließendem Wasser und Toiletten überleben. Besonders schlimm sieht es auf Lesbos aus. Nach dem Feuer, das im September 2020 das berüchtigte Lager Moria vernichtete, wurde ein neues bei Kara Tepe errichtet, das sich auf bleiverseuchtem Gelände befindet. Dies gab das griechische Immigrationsministerium sogar offiziell zu. Kritiker hatten bereits vor dem Bau des offiziell als Provisorium geplanten Lagers davor gewarnt, da es auf einem militärischen Truppenübungsplatz errichtet wurde.
Damals bestritt Alexandros Ragavas als Sprecher des Ministeriums noch gegenüber dem arabischen Fernsehsender Al Jazeera die Vorwürfe: "alle notwendigen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Umwelt-, Gesundheits- und Infrastrukturbedingungen wurden allumfänglich getroffen." Am 23. Januar veröffentlichte das Ministerium für Migration schließlich eine Stellungnahme, in der die Bleibelastung des Lagers eingeräumt wird Das Ministerium nennt das Lager in offiziellen Stellungnahmen nicht Kara Tepe sondern Mavrovounio, was im Prinzip das Gleiche bedeutet, "schwarzer Berg". Allerdings ist die umgangssprachlich gebräuchlichere Version, Kara Tepe, türkisch, während Mavrovounio griechisch ist.
In der Stellungnahme wird erklärt, dass das Militär vor der Errichtung des Lagers nach Munitions- und Minenresten gesucht habe. Zudem sei Erde in Höhe von 50 Zentimetern aufgeschüttet worden. Darüber kam eine Kiesschicht von 20 Zentimetern. Am 24. November wurden Geologen mit der Untersuchung des Bodens beauftragt. Die entnommenen Proben zeigten gemäß eines Berichts vom 8. Dezember eine Bleibelastung oberhalb der erlaubten Grenzwerte auf. Nun sollen erneut Erde und Kies aufgeschüttet werden. Der Bereich rund um die Verwaltungsgebäude des Lagers wird zudem mit einer Betonschicht, welche den Untergrund versiegelt, versehen.
Für die verspätete Bekanntgabe des Berichts und die Tatsache, dass die Bleibelastung zu Beginn verschwiegen wurde, kritisiert die Organisation Ärzte ohne Grenzen das Ministerium scharf und stellt Fragen. Zum Beispiel, welche internationalen Standards für die Messungen verwendet wurden und aufgrund welcher wissenschaftlichen Analyse die Maßnahmen des Ministeriums ausreichen, um die im Lager lebenden Personen zu schützen, da aktuelle Daten zeigten, dass es keine sicheren Grenzwerte für Bleiexposition gebe.
Was aber passiert mit erfolgreichen Asylbewerbern?
Asylsuchende die einen positiven Asylbescheid erhalten, bekommen gleichzeitig mit den Asylbescheid die Ausweisung aus dem Lager oder der Wohnung. Sie stehen dann mittellos und ohne soziale Beihilfen auf der Straße. Dieser Umstand dürfte das Urteil des Oberverwaltungsgerichts in Münster maßgeblich beeinflusst haben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hatte die Asylanträge der Kläger - eines Eritreers und eines aus Syrien stammenden Palästinensers - zuvor abgelehnt, weil sie in Griechenland formell bereits internationalen Schutz erhalten hatten. Zugleich hatte es ihnen die Abschiebung dorthin angedroht.