Wenn Diskussionsgrundlagen unklar sind

Seite 2: Tatsachen nach Belieben: "Frauen, Ossis und Wessis und Sozialtouristen"

Das Patriarchat hat unglaublich viel Leid verursacht. Viele Frauen konnten in ihrem Leben nicht erreichen, was ihnen ohne Unterdrückung möglich gewesen wäre, die Welt mit beiden biologischen und beliebig vielen empfundenen Geschlechtern musste auf viele Erkenntnisse verzichten oder unnötig lange warten.

Auch für die Gesamtgesellschaft (oder auch nur den männlichen Teil) liegt das Versäumnis auf der Hand. Denn mehr Köpfe gleich mehr Gedanken gleich mehr Chancen auf neue Geistesblitze.

Im Zuge der mit Gleichberechtigung derzeit einhergehenden geschlechtlichen Umbesetzungen von Positionen sollte allerdings Klarheit darüber bestehen, ob es nun über unbedeutend Morphologisches hinausgehende Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt.

Wenn Männer und Frauen völlig gleich sind, müsste es für die jeweilige gesellschaftliche Funktion egal sein, welches Geschlecht tätig wird. Gibt es hingegen Unterschiede, wird man in jedem Fall schauen müssen, ob dieser Unterschied dem Vorhaben bei entsprechender Besetzung zum Nachteil oder Vorteil gereichen wird.

Allgemeiner: Wo Menschen verschieden sind, hängt es von der individuellen Wertung ab, welche Ausprägung man für besser, nützlicher, angenehmer etc. hält. Wenn tatsächlich "Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" können, dann empfiehlt dies (statistisch), fürs Zuhören und fürs Einparken nicht dasselbe Geschlecht zu beschäftigen.

Wir hätten es mit unterschiedlichen Kompetenzen zu tun. Der einer Aufklärung entgegenstehende Standardfehler ist aber, nach Belieben Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen oder sie zu ignorieren (oder gar zu negieren).

Nur wenn es (kulturelle, sozial geprägte) Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Lebensräume gibt, kann man diese bewerten. Die "Ossi"- und "Wessi"-Klassifizierung ist auch drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung präsent.

Wenn "der Ossi" allgemein oder "der Sachse" im Besonderen aus der Sicht von irgendwem besonders doof ist, muss es zunächst einen objektiven Unterschied zum Wessi oder Brandenburger geben. Und vermutlich gibt es dann auch Unterschiede zwischen anderen Bevölkerungsgruppen bzw. regionalen Populationen.

Jeder kann diese Unterschiede dann mit ganz verschiedenen Ergebnissen bewerten. Gibt es hingegen diese Unterschiede nicht, ist die unterschiedliche Bewertung Quatsch, weil sie keine Fakten, sondern Fiktionen kommentiert.

Wer in Migration eine Bereicherung sieht, geht zunächst einmal von der Andersartigkeit der Neubürger aus. Wenn es diese gibt, ist die Bewertung "Bereicherung" aber keine Zwangsläufigkeit (wohl aber "Erhöhung von Vielfalt" oder ähnlich Wertneutrales).

Beispielhaft dafür war die öffentliche Erregung über das Schlagwort "Sozialtourismus", das CDU-Vorsitzender Friedrich Merz in einem Interview verwendet hatte:

Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine, von denen sich mittlerweile eine größere Zahl dieses System zunutze machen. Da haben wir ein Problem, das größer wird. Wir haben im Frühjahr drauf hingewiesen, dass dieses Problem entstehen könnte – die Bundesregierung hat sich taub gestellt.

Friedrich Merz am 26. September 2022 bei BILD-TV

Dabei wurde in weiten Teilen die Tatsachenbehauptung von Merz, es gebe Sozialleistungsbetrug durch Flüchtlinge, negiert. Dies setzt allerdings zunächst eine Diskriminierung der zu diesem Zeitpunkt etwa 1,1 Millionen Menschen aus der Ukraine voraus, da ein Betrug etwa bei deutschen Beziehern nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird.

Über die Angemessenheit (und Prioritätensetzung) von Merz' Sorge lässt sich trefflich streiten (weil es um Meinung geht), aber nur, wenn über die Tatsachengrundlage Klarheit besteht und diese dann von allen Beteiligten zur Kenntnis genommen wird: sind ukrainische Flüchtlinge und deutsche Staatsbürger in ihrem Kriminalitätspotential gleich oder ungleich?

Ähnliches ist bei allen Diskussionen über Großgruppen zu beobachten. Die gesamte Corona-Pandemie hindurch arbeiteten Ärzte und Krankenschwestern am Limit und taten mindestens ihr Menschenmögliches – in weiten Teilen der öffentlichen Debatten. Selbst Kritiker der Corona-Politik verneigten sich regelmäßig.

Also unterscheiden sich Ärzte und Pfleger von vielen (oder allen?) anderen Berufsgruppen grundlegend dadurch, dass es bei ihnen keine Faulenzer gibt, keine fachlich Inkompetenten, keine für den Job schlicht Ungeeigneten? Obwohl dem unter anderem die Summe von Patientenerfahrungen ("anekdotische Evidenz") entgegensteht? Nein, es wurden schlicht alle negativen Fakten ausgeblendet.

Damit ist aber die Bewertungsgrundlage falsch und eine sinnvolle Diskussion nicht möglich. "Die Polizei" kann gleichzeitig strukturell-rassistisch und fair und unparteiisch sein, wie es sich für die Ausübung des Gewaltmonopols geziemt, je nachdem, auf welcher Veranstaltung sie von jemandem gesehen und bewertet wird.

Neben diesen vielen Problemen mit Tatsachengrundlagen stehen einer gesellschaftlichen Aufklärung und Verständigung ähnliche bei Bildung von und Umgang mit Meinungen im Wege. Zu Vergleichendes wird mit unterschiedlichen Maßen gemessen, Positionen werden nach Belieben in eine Debatte ein- oder von ihr ausgeschlossen, ethische Grenzen des Sagbaren werden nach Interessenlage verschoben u.v.m. Darum geht es im vierten und letzten Teil.