Wenn Netrebko singt, sollte Makejew schweigen
Die Kampagne gegen die Opernsängerin Anna Netrebko zeigt, was der Krieg bei uns angerichtet hat. Und wie Fanatismus Kunst und Kultur erfasst. Ein Telepolis-Leitartikel.
Der Krieg Russlands in der Ukraine entfaltet seine zerstörerische Wirkung auch dort, wo man es nicht erwartet. Im friedlichen Westen, in der Kultur. Die Forderung nach einem Auftrittsverbot für die russische Sopranistin Anna Netrebko am heutigen Freitagabend in Berlin zeugt davon. Die 51-Jährige kann zum Krieg sagen, was sie will – die Verbotsforderungen wird sie nicht verhindern können.
Die Kampagne gegen die Opernsängerin mit russischem und österreichischem Pass zeugt von einer Unkultur der Ignoranz, wie sie nur in Kriegszeiten ausbrechen kann. Aus der Enthemmung schreit. Und die aggressiver wird.
Deutlich wurde das bisher vor allem in der politischen Debatte. Dort blieb es folgenlos, wenn ein Podcaster eine Politikerin als "menschlich komplett verdorbenen Zellhaufen" bezeichnete, weil sie die Darstellung russischer Kriegsverbrechen in Frage stellte. Zu Recht, wie die ARD, in deren Programm die Äußerung fiel, später einräumen musste.
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Die völkerrechtswidrige Intervention in der Ukraine wird im Westen stets akzentuierend "Angriffskrieg" genannt, als habe es seit dem Zweiten Weltkrieg keine derartigen Waffengänge gegeben, schon gar nicht unter westlicher Verantwortung. (Sie hießen verklausulierend Opération Harmattan, Operation Odyssey Dawn oder Operation Desert Storm, Operation Enduring Freedom …)
Der zwar berechtigte, aber im Vergleich zugespitzte und geradezu erzwungene Sprachgebrauch im Falle des russischen Krieges bleibt nicht ohne Folgen. Russland ist mehr als nur ein Paria. Das spüren die Russinnen und Russen. Und das zeigt sich im Umgang mit der Kultur ihres Landes.
Im März 2022 ersetzte das walisische Cardiff Philharmonic Orchestra die Ouvertüre 1812 des Russen Pjotr Tschaikowski durch die ukrainische Nationalhymne und die 8. Sinfonie von Antonín Dvořák.
Ebenfalls im Frühjahr 2002 hatte der CDU-Bürgermeister der nordrhein-westfälischen Gemeinde Lindlar ein Konzert des Jungen Orchesters NRW abgesagt, weil auch dort Tschaikowski und russische Musik auf dem Programm standen. Nach heftigen Protesten durfte das Orchester im Mai vergangenen Jahres doch noch auftreten.
Im gleichen Sinne forderte der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkatschenko in einem Beitrag für den britischen Guardian die westlichen Staaten auf, Tschaikowskis Werke zu boykottieren. Musik des Komponisten solle bis zum Ende der "blutigen Invasion" nicht mehr erklingen. Das passt zu den Ereignissen in der Ukraine, wo Puschkin-Denkmäler vom Sockel gerissen werden. Ist das auch ein Beitrag zur Verteidigung unserer Freiheit?
Das alles ist längst nicht mehr rational und sollte mehr Kritik hervorrufen. Nur die uneingeschränkte – ich betone: die uneingeschränkte – Solidarität mit der Ukraine und alles, was ihre Vertreter so von sich geben, steht dem entgegen. Und das ist gerade in der Kultur verheerend.
Fake News vom Botschafter
Wenn der ukrainische Botschafter der Sopranistin "persönliche Mitverantwortung für den russischen Angriffskrieg" vorwirft, zeigt das nur eines: eine gefährliche Irrationalität. Denn Oleksij Makejew verbreitet bewusst Fake News, um "den Feind" auch in seinem Gastland zurückzudrängen, wo immer es geht. Das mag aus seiner Sicht verständlich sein. Mitmachen oder gar gutheißen muss man das nicht.
Völlig zu Recht weist die Berliner Staatsoper Unter den Linden in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass sich die Künstlerin "öffentlich sehr deutlich von der russischen Führung distanziert" habe. Das gilt auch für ein Foto mit Separatisten, zu dem sich Netrebko erklärt hat. Wer dies in Abrede stellt, beweist nur Ignoranz und Extremismus.
Hier wirkt ein moralischer Druck, der alle Sphären der Gesellschaft erfasst hat. Allen voran die Politik, wie die hysterischen Reaktionen auf Forderungen nach einem Verhandlungsfrieden zeigen, egal ob sie von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, von Akademikern oder Sozialdemokraten kommen.
Das zeigt sich in der Forschung und an den Universitäten, wo russische Akademiker kaum noch Platz haben.
Und gerade in Kunst und Kultur, wo die Boykottaufrufe besonders verheerend wirken, weil gerade hier ein Dialog stattfinden könnte.
"Freiheit, die ich meine", schrieb Max von Schenkendorf nach dem Sieg der europäischen Großmächte über Napoleon. Er beschrieb damit ein damals neues Freiheitsverständnis. Freiheit prägte fortan Kunst und Kultur in ganz Europa, individuell und kollektiv.
Es ging darum, einen Raum zu schaffen und zu verteidigen, der sich staatlichem Druck entzog – politischem, juristischem, moralischem, wie auch immer begründetem. Dass es daran mangelt, zeigt sich seit Beginn des Krieges: Im öffentlichen Raum äußern sich die Menschen anders als im Privaten – ein Indiz für die Einschränkung der Meinungsfreiheit, für eine Atmosphäre, in der jede Infragestellung der Ukraine-Politik immer aggressiv und oft diffamierend zurückgewiesen wird.
Nun wird Netrebko in der Staatsoper nicht zu einer Debatte einladen, sondern eine Verdi-Oper singen. Doch der Druck, ihr und dem Opernhaus dies zu verbieten, wirkt indirekt auch nach innen.
Man schweigt lieber, hält sich zurück, widerspricht nicht mehr. So zersetzt der moralisierende autoritäre Geist eine demokratische Kultur, in der es, wäre sie noch intakt, möglich sein müsste zu sagen: Empathisch und humanistisch wäre es, das Töten sofort zu beenden.
Nach außen ist er darauf angelegt, jede Debatte mit Russland zu verhindern. Denen hört man nicht zu. Die liest man nicht. Mit denen redet man nicht.
Moral und Ethik sind universell
Es wird ethisch und moralisch argumentiert: Russland hat die Ukraine überfallen, im Krieg sterben Menschen, auch Zivilisten. Das ist natürlich richtig und zu verurteilen. Aber Moral und Ethik sind universell oder sie sind gar nicht. Deshalb müssen derart begründete Positionen einem Vergleich standhalten.
Im März 2003 erklärte Hans Magnus Enzensberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine "triumphale Freude" über den Angriffskrieg der USA gegen den Irak, der zum Sturz Saddam Husseins führte. Es irritiere ihn zutiefst, "dass so viele Deutsche der Rhetorik des ‚Appeasement‘ anhängen, als hätten sie nie unter einem totalitären Regime gelebt".
Auch der ungarische Schriftsteller György Konrád verteidigte den Angriff auf den Irak. Als Europäer sei er "daran interessiert, dass es weniger Diktaturen auf der Welt gibt. Deshalb ist uns die aufgefrischte antiimperialistische Propaganda (...) nicht sympathisch".
Während Bomben auf Bagdad fielen, schrieb der damalige Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegel, Hellmuth Karasek, er könne nicht einsehen, "warum jemand, der die Argumente Tony Blairs für überzeugender und ‚richtiger‘ hält als die (Gerhard) Schröders, ein Kriegstreiber sein soll".
Karasek holte weit aus, um den Bruch des Völkerrechts durch die USA, Großbritannien und andere zu legitimieren: "Napoleon wurde in Deutschland trotz seiner Überfallskriege als Befreier empfunden". Äpfel-und-Birnen-Vergleiche sind nichts dagegen.
Die medizinische Fachzeitschrift Lancet schätzt übrigens, dass allein von März 2003 bis Juli 2006 rund 655.000 Zivilisten infolge des US-Angriffs auf den Irak starben, Opinion Research Business geht von 1,033 Millionen Toten von März 2003 bis August 2007 aus, eine PLOS Medicine Studie kommt auf 405.000 Tote von März 2003 bis Juni 2011.
Weder Konrád noch Enzensberger oder Karasek folgten der damaligen Position, es gab keine nennenswerte Empörung oder gar Boykottaufrufe.
Wieder auf der Seite der Guten
Sind die Kampagnen gegen russische Künstler heute auch massenpsychologisch so zu erklären? Je fanatischer wir gegen sie wettern, je heftiger wir ihre Bestrafung fordern, desto weniger müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, welche Mitschuld wir auf uns geladen haben.
Ein Indiz dafür haben wir hier schon früher angeführt: "Putler"-Plakate auf Ukraine-Demonstrationen, Bilder, auf denen das Konterfei des deutschen Diktators über das des russischen Präsidenten gelegt wird.
Das sagt: Endlich, Generationen, nachdem unsere Väter, Großväter und inzwischen Urgroßväter am blutigsten Vernichtungskrieg der Neuzeit teilgenommen haben, stehen wir auf der Seite der Guten.
Das ist ein gutes Gefühl. Allein, es nützt nichts. Denn während wir uns mit Netrebko und der Staatsoper beschäftigen, geht der Krieg weiter, sterben Menschen, scheitern EU-Sanktionen, gibt es keinen neuen Getreidedeal, verhungern Unschuldige in anderen Teilen der Welt, verseucht DU-Munition das Kriegsland, werden Familien getrennt, Männer an die Front gezwungen.
Es gäbe viel zu diskutieren. Netrebkos Gesang gehört nicht dazu.
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