Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst

Seite 2: Die kapitalistische "Arbeitsgesellschaft" ist permanent durch Arbeitslosigkeit bedroht

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Die kapitalistische "Arbeitsgesellschaft" ist folglich permanent durch Arbeitslosigkeit bedroht. Historisch betrachtet konnte dieser Selbstwiderspruch des Kapitalverhältnisses durch äußere wie innere Expansion und den industriellen Strukturwandel angemildert werden. Die Innovationen und wissenschaftlichen Entdeckungen führten ja auch zur Etablierung neuer Produktionszweige (Textil-, Schwer-, Elektroindustrie, Chemiebranche, Automobilbau, etc), die die freigewordenen Arbeitskräfte aus den "alten" Industriesektoren aufnehmen konnten. Schwere Krisen - wie etwa diejenige in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts - traten immer dann ein, wenn dieser Strukturwandel ins Stocken kam.

Mit dem Einsetzen der IT-Industrierevolution stößt aber das System an seine Grenzen. Die gesamtwirtschaftliche Anwendung der Innovationen dieser "neuen" Industriesektoren lässt weitaus mehr Arbeitsplätze in der gesamten Warenproduktion verschwinden, als in den neuen Industriesektoren entstehen. Der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus.

Dass der Strukturwandel der Industrie nicht mehr funktioniert und diese in eine Sackgasse geführt hat, wird inzwischen auch in Massenmedien wie der FAZ diskutiert, die in einem längeren Artikel eine "digitale Zukunft" beschrieb, in der eine "Ökonomie der Verachtung" die "menschliche Arbeitskraft" weitgehend überflüssig machen würde.

Doch hat diese strukturelle Krise schon seit den 1980er Jahren - mit zunehmender Intensität - eingesetzt. Die "Ökonomie der Verachtung", die immer mehr Menschen ökonomisch überflüssig macht, ist keine Zukunftsprognose, sondern längst blutige Realität - ein Blick in die Peripherie des kapitalistischen Weltsystems müsste da eigentlich genügen (Mad Max im Zweistromland).

Historische Krise des Kapitalverhältnisses

Und es war gerade das wilde und historisch absolut beispiellose Wachstum der Finanzmärkte und Schuldenberge in den vergangenen Jahrzehnten, das diese strukturelle Krise der Warenproduktion kompensierte - um den Preis wilder Blasenbildung und immer heftigerer Finanzmarktkrisen.

Deswegen klagen die Dirk Müllers dieser Welt nun über die "Schuldenexzesse" der Vergangenheit, ohne verstehen zu wollen, dass es gerade diese Schuldenmacherei ist, die die Existenz ihres heiß geliebten Kapitalismus überhaupt noch prolongiert.

Der Kapitalismus ist somit schon längst zu produktiv für sich selbst geworden. Und diese "Überproduktivität" kann nur durch die Generierung schuldenfinanzierter Nachfrage eine Zeit lang überbrückt werden. Wir sehen uns somit mit einer historischen Krise des Kapitalverhältnisses konfrontiert, wie sie Karl Marx vor rund 150 Jahren exakt prognostiziert hat: Die Produktivkräfte sprengen die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die eben auf der Verwertung menschlicher Arbeitskraft in der Warenproduktion beruhen.

Das Kapital ist nichts anders als vergangene, in der Warenproduktion geleistete Arbeit, die nach ihrer marktvermittelten Transformation in die Geldform in einer Eigendynamik nach uferloser, größtmöglicher Selbstvermehrung strebt. Der irrationale Selbstzweck der Veranstaltung Kapitalismus besteht somit darin, immer größere Massen toter Arbeit anzuhäufen, was angesichts der rationalisierungsbedingten Verdrängung lebendiger Arbeit aus dem Produktionsprozess sich immer schwieriger gestaltet und nur noch durch Simulation auf den Finanzmärkten notdürftig substituiert werden kann.

Der bürgerliche Ökonom wird diese marxsche Gleichsetzung von Kapital und wertbildender Arbeit sicherlich umgehend als "marxistische Ideologie" abtun. Dabei gibt gerade die jüngste deutsche Wirtschaftsgeschichte Marx eindeutig recht. Die Bundesrepublik kann nur deswegen als der bisherige "Krisengewinner" erscheinen, weil hier gerade die warenproduzierende Industrie erhalten blieb, während in Großbritannien, Südeuropa oder den USA die Finanzmärkte als Konjunkturmotoren wirkten.

Seit dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 ist eigentlich einem jeden Beobachter klar, dass Kapital dauerhaft nicht durch Blasenbildung auf den Finanzmärkten akkumuliert werden kann. Ähnlich verhält es sich mit dem vergangenen Bauboom in den USA oder Spanien, die bis Ausbruch der Finanzkrise als maßgebliche - eben durch die wuchernden Finanzmärkte beförderten - Konjunkturmotoren wirkten. Die warenproduzierende Arbeit bildet die Substanz des Kapitals. Die deutsche Wirtschaftspolitik liefert somit den impliziten Beweis für die Stichhaltigkeit der marxschen Werttheorie.

Dass diese Illusion einer heilen Arbeitsgesellschaft in der Bundesrepublik nur durch enorme Außenhandelsüberschüsse aufrechterhalten werden kann, und somit logischerweise auf den hierzulande allseits verhassten Auslandsschulden fußt (Der Exportüberschussweltmeister), werden deutsche Ökonomen wie Stammtischbrüder wohl nie zur Kenntnis nehmen wollen.

Die Folgen der Digitalisierung

Der deutsche Industrieboom - der durch Auslandsverschuldung finanziert wird und auf der Marktverdrängung der europäischen Konkurrenz beruht - bildet auch die materielle Grundlage dafür, dass der Krisen-Diskurs in Deutschland so sehr der entsprechenden Diskussion im angelsächsischen Raum hinterherhinkt. Hier scheint die kapitalistische Arbeitsgesellschaft noch "in Ordnung", sodass die Anreize zu einer ernsthaften, tiefer gehenden Ursachensuche nicht dermaßen stark wirken wie etwa in den USA, wo der finanzmarktgetriebene Kapitalismus und die damit einhergehenden Tendenzen zur Deindustrialisierung ihre volle Ausbildung erfahren haben.

Diese deutsche Denkfaulheit kommt auch bei der Diskussion der Folgen der Digitalisierung zum Ausdruck. Zum einen wird die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft als ein drohendes Zukunftsszenario interpretiert, wie im besagten FAZ-Text "Eine Ökonomie der Verachtung".

Andererseits wird durchweg nicht wahrgenommen, dass die Folgen der "Digitalisierung" die gesamte Gesellschaft - und vor allem die Warenproduktion - erfassen. Am 20. Juli führte etwa Henrik Müller zwar auch die Digitalisierung als eine Ursache für die Schwächephase der Weltwirtschaft an:

Dieser Punkt mag zunächst überraschen, denn die Steigerung der Computerkapazitäten und die zunehmende Vernetzung sollten eigentlich die Produktivität steigern. Inzwischen aber erfasst die Digitalisierung immer mehr Wirtschaftsbereiche - von Medien über Banken bis zu Mobilitätsdienstleistungen. Fast immer löst sie einen Preisverfall aus. Häufig verwandelt sie bislang relativ kostspielige Produkte in quasi freie Güter, die umsonst und überall verfügbar sind. So kostete etwa früher ein Lexikon Hunderte Euro, heute bekommen Sie eine ähnliche Leistung umsonst im Internet. Mit dem Effekt, dass solche nun freien Güter in den volkswirtschaftlichen Rechenwerken gar nicht mehr auftauchen.

In altbekannter angebotsorientierter Manier ist Professor Müller der Ansicht, die Erhöhung der Produktivität durch die "Steigerung der Computerkapazitäten" hätte "eigentlich" zur Konjunkturbelebung führen müssen. So argumentieren können nur neoliberale Ökonomen, die ganz außer Acht lassen, dass die ganzen Warenberge, die in immer kürzerer Zeit durch immer weniger Arbeitskräfte produziert werden können, auch von Irgendwem gekauft werden müssten.

Die konjunkturhemmenden Folgen der Digitalisierung sieht Müller hingegen nur in der Substitution "reaktiv kostspieliger Güter" durch "freie Güter", die dann in der Berechnung des BIP nicht berücksichtigt würden. Bei Müller scheinen nur die dem Markt durch die Einführung einer digitalen Allmende direkt entzogenen Produkte und Dienstleistungen von den Folgen der IT-Revolution betroffen, während die besagten Folgen der Digitalisierung auf die gesamte Warenproduktion nicht mal erwähnt werden.

Ähnlich argumentierte die FAZ, die aber aus dem Wachstum digitaler Gemeingüter oder kostenloser Dienstleistungen nur schlussfolgert, man müsse künftig auf das BIP-Wachstum nicht mehr so viel Wert legen:

Viele Angebote werde es nahezu kostenlos geben. Zum Beispiel zahlen Verbraucher heute kaum dafür, um Unmengen an Musik und Videos im Internet zu konsumieren oder per Skype von Berlin nach Beirut zu telefonieren. Uni-Vorlesungen gibt es kostenlos im Netz, Lexika wie Wikipedia sind frei für alle. ... Das BIP werde den Wohlstand immer weniger erfassen, das wirkliche Wachstum aber werde größer sein als das gemessene.

Beiden Autoren fällt dabei nicht auf, dass sich in diesem digitalen Bereich der Nicht-Waren, die nun Allgemeingut sind, auch die Möglichkeit einer neuen Gesellschaftsformation andeutet. Selbstverständlich sind - gerade durch die ungeheure Erhöhung der Produktivität im Kapitalismus - die materiellen Grundlagen dafür gegeben, dass ein jeder Mensch künftig seine materiellen Grundbedürfnisse ebenso einfach befriedigen kann wie derzeit seinen Wissenshunger.

Die "materiellen Existenzbedingungen" der neuen Gesellschaft sind bereits "im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden", wie es Marx formulierte. In eben der avanciertesten Sphäre der kapitalistischen Warenproduktion, die mit ihren Produktivitätsfortschritten den Kapitalismus in den Kollaps treibt, finden sich auch Spurenelemente von etwas Neuem, Nicht-Kapitalistischem.

Die Wissensallmende stellt das Wetterleuchten einer postkapitalistischen Wirtschaftsweise dar, die aber gerade nicht nur auf den digitalen Bereich beschränkt bleiben darf: Sie muss in einem bewussten, transformatorischen Akt in die analoge Welt treten. Wir können ja nicht Wikipedia-Artikel essen.