Wenn es ums Geld geht
Seite 3: Von Kosten zum Menschenbild
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Zu diesen direkten Kosten kommen Zahlungen außerhalb des Gesundheitssystems, etwa für Sozialleistungen (13%), und andere kleine Kostenpunkte. Der Großteil (46%) der genannten 800 Milliarden ergibt sich allerdings aus indirekten Kosten - und das sind Kosten, die es vor allem auf dem Papier gibt: Hierfür wird nämlich schlicht angenommen, dass eine wegen Krankheit ausgefallene Arbeitsstunde, ein Vorruhestand oder vorzeitiger Tod Geld kostet - eben den Betrag, der ansonsten erwirtschaftet worden wäre. So kann man ökonomisch natürlich denken. Was kosten dann aber etwa Schlaf, Urlaub und andere Freizeitbeschäftigung, die ein Mensch nicht mit produktiver Arbeit verbringt? Wahrscheinlich sehr viel mehr als alle Erkrankungen zusammengenommen.
Es geht also schlicht um eine Sichtweise auf den Menschen, um ein Menschenbild. Die hier berechneten indirekten Kosten gibt es nur dann, wenn man davon ausgeht, dass der Mensch auch wirklich 100% seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit arbeitet. Diese Annahme ist aber unrealistisch, ja naiv.
Ein Recht auf Krankheit
Genauso wie man einkalkuliert, dass Menschen Schlaf, Urlaub und andere Freizeit brauchen, muss man auch einkalkulieren, dass Menschen manchmal krank sind: der eine mehr, die andere weniger. Man erwirtschaftet mit seiner Arbeit also auch ein historisch errungenes Recht, krank zu sein, schlicht weil das natürlich und menschenwürdig ist. Beispielsweise von einem 90-Prozent-Modell aus gedacht, sowohl individuell als gesamtgesellschaftlich, verschwinden die indirekten Kosten dann von selbst. Ohne Kosten lässt sich aber schlechter für Forschungsgelder argumentieren. Deshalb macht das keiner.
Wer aber wirklich diese "Kosten" reduzieren wollte, der müsste konsequenterweise auch Urlaub, Rente und andere Freizeit minimieren. Stellen wir uns vor, wie produktiv das wäre, an sieben Tagen die Woche 24 Stunden zu arbeiten, das ganze Jahr hindurch! Bloß wären nach rund zwei solcher Wochen die meisten von uns schon tot, wenn sie nicht bereits vorher bei Unfällen ums Leben kämen.
Das wäre, zugegeben, ein besonders radikales Beispiel - wenn wir aufgrund von Stress und Überarbeitung aber "nur" ein paar Jahre früher sterben, sei es, weil der Körper verbraucht ist oder weil sich jemand aus Verzweiflung das Leben nimmt, dann würde das sogar die Sozial- und Rentenkassen entlasten. Das ist erst einmal nur ein provokanter Gedanke, den man aber durchaus im Hinterkopf behalten sollte.
Gesundes Maß an Krankheit
Von der Frage nach den Kosten der "Gehirnstörungen" kommen wir also auf die Frage nach der Organisation einer gesunden Gesellschaft; und diese Gesellschaft leistet sich selbstverständlich ein Maß an Krankheit. Wenigstens ein Teil Krankheitskosten, die manche Forscherinnen und Forscher berechnen und Lobbyorganisationen wie der European Brain Council verbreiten, ist bei näherer Betrachtung also gar keine.
Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Grund, die Rede von den jährlich 165 Millionen von "Gehirnstörungen" betroffenen Menschen in der EU nicht einfach so zu akzeptieren. Die entsprechenden Forscherinnen und Forscher haben sich für die Schätzung dieser Größe zwar sehr viel Mühe gegeben: So seien rund 40% der Menschen jährlich von so einer Störung betroffen (Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört). Angeführt wird die Liste von Angststörungen (14%), Schlafstörungen und Depressionen (jeweils 7%) sowie Demenz und Aufmerksamkeitsstörungen (jeweils 5%). Für diese Zahlen wurden jedoch vor allem Symptome gezählt.
Der wesentliche Unterschied im Gegensatz zur amtlichen Fassung ist, dass damit nichts über die klinische Signifikanz gesagt ist. Wie wir gesehen haben, ist das aber eine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer psychischen Störung. Wer etwa mit den Symptomen einer Angst- oder Aufmerksamkeitsstörung - damit kommt man schon auf fast die Hälfte der genannten 40% - gut leben kann, der ist auch nicht psychisch krank.
Systematische Zwänge
Der Grund, warum man von jährlich 165 Millionen Gehirnkranken in der EU spricht, die jährlich Kosten in Höhe von 800 Milliarden Euro verursachen würden, ist schlicht ein pragmatisch-opportunistischer: Diese Geschichte eignet sich hervorragend zum Einwerben von Forschungsgeldern; und um in die Medien zu kommen. Das kann sich wiederum in Forschungsgeldern auszahlen. Bloß stimmt an der Geschichte so gut wie nichts: Weder sind es 165 Millionen Menschen mit einem Hilfsbedürfnis, noch Hirnkranke, noch wirkliche Kosten in Höhe von 800 Milliarden Euro.
Anstatt mit dem Finger auf Individuen zu zeigen, geht es mir um das Aufdecken systematischer Zwänge. Aus der Sportwelt sind wir es inzwischen gewohnt, dass alle paar Jahre Betrügereien großangelegten Dopings aufgedeckt werden. Auch aus der Wirtschaft erfuhren wir von Korruptionsskandalen und sogar gezielten Testfälschungen für Produkte "Made in Germany". Auch dort ist der Konkurrenzkampf, der Effizienz- und Profitmaximierungsdruck inzwischen offenbar so groß, dass immer mehr Akteure "dopen", das heißt die Regeln brechen, um erfolgreicher zu sein.
Bei Wissenschaft und Medizin scheinen viele nach wie vor zu denken, dass sie im interessenfreien Raum stattfinden. Als ginge es dort schlicht um Erkenntnis oder Gesundheit und nicht auch um Einfluss, Macht, Karriere und Geld! Dabei kritisieren selbst namhafte Forscherinnen und Forscher korrumpierende Tendenzen oder die zerstörerischen Folgen eines "Hyperwettbewerbs" und trug 2014 etwa die Zeit den Hilferuf "Rettet die Wissenschaft!" aus der internationalen Diskussion in den deutschsprachigen Raum.
Alternative Möglichkeiten
Man könnte nun an der Schlechtigkeit der Welt verzweifeln. Das ist aber nicht notwendig. Erstens geht es bei all diesen Vorgängen nicht um Naturkatastrophen, sondern um menschliches Handeln; die Menschen könnten sich also zumindest theoretisch anders entscheiden - dass sie es praktisch nicht tun, dürfte an den erwähnten Zwängen liegen. Diese sind aber wiederum keine Naturgesetze, sondern von Menschen gemacht. Ebenso können sie auch von Menschen wieder verändert werden.
Zweitens und in Konkretisierung des ersten Punktes wäre es sowohl für die Wissenschaft als auch für die Medizin ohne weiteres möglich, das Streben nicht mehr am Optimieren von Output- und Gewinnzahlen auszurichten, sondern an Erkenntnis und am Wohl der Menschen. Genauso wie das betriebswirtschaftliche Denken in viele Bereiche Einzug gehalten hat, in die es nicht gehört, kann es sich von dort auch wieder verabschieden. Natürlich wird das den Widerstand derjenigen provozieren, die vom Status quo profitieren - doch das ist nur eine kleine Minderheit.
Was die Philosophie beiträgt
Der Beitrag eines Philosophen oder Wissenschaftstheoretikers kann es sein, vergessene Möglichkeiten aufzuzeigen; oder überhaupt aufzuzeigen, dass es Alternativen und Möglichkeiten gibt, die idealerweise einen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess unterstützen. Diese Disziplinen haben den Vorteil, vom Gewinnstreben tendenziell unabhängig zu sein, schlicht weil damit wenig Geld zu verdienen ist. Dass bedeutet leider nicht, dass das Nutzen- und Effizienzdenken zusammen mit einem Rückzug in die abstrakte Welt des Elfenbeinturms dort nicht auch einen großen Schaden angerichtet hätte.
Dennoch lohnt ein orientierender, wissenschaftstheoretischer Blick auf psychische Störungen, der die verschiedenen Ansätze miteinander vergleicht und deren Folgen analysiert. Genau darum geht es im dritten Teil, bevor sich der vierte Teil der Serie abschließend mit dem herrschenden Paradigma der molekularbiologischen Psychiatrie auseinandersetzt.