"Wenn sich ein Fußballer als schwul outet, sinkt sein Marktwert"

Stephan Schleim

Selbst in den liberalen Niederlanden bleibt homosexuelle Orientierung ein Problem. Welches Männer- und Menschenbild transportiert der Profifußball?

Die Niederlande ermöglichten 2001 als erstes Land der Welt die "Homo-Ehe". Seit 1998 konnten gleichgeschlechtliche Paare eine registrierte Partnerschaft abschließen.

Für viele Niederländerinnen und Niederländer ist Toleranz gegenüber Menschen mit homosexuellen Neigungen wichtig. So wurde in Amsterdam schon seit den späten 1970ern ein Denkmal geplant und 1987 schließlich am Westermarkt das berühmte Homomonument eingeweiht.

Dessen rosafarbene Dreiecke erinnern an die Verfolgung bi- und homosexueller Menschen im Nationalsozialismus, die in Deutschland lange tabuisiert blieb. Solche Dreiecke mussten sich die Gefangenen in Konzentrationslagern auf die Kleidung nähen.

Inzwischen sind mehrere Städte auf der ganzen Welt mit ähnlichen Denkmälern nachgezogen: zum Beispiel Köln 1995, Sydney 2001, San Francisco 2003 oder Barcelona 2011.

Doch auch die vergleichsweise frühe Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften bedeutet nicht automatisch, dass es in allen gesellschaftlichen Bereichen eine große Toleranz gibt. So kam 2015 ein Forschungsbericht des Sozial- und Kulturwissenschaftlichen Büros zu einem geteilten Ergebnis:

Zwar würden Homosexualität (und Bi- und Transsexualität) weitgehend akzeptiert, doch manchmal eher auf abstrakter Ebene. So ergaben Befragungen von Schülerinnen und Schülern im Alter von 11 bis 16 Jahren noch 2013, dass rund ein Drittel es "eklig" fand, wenn zwei Männer sich küssen.

Zum Vergleich: Bei zwei Frauen fanden das rund 20 Prozent und bei Frau und Mann 4 Prozent. Nur vier Jahre vorher hatte das bei zwei Männern aber noch fast die Hälfte gefunden und bei zwei einander küssenden Frauen rund 30 Prozent.

Die Wissenschaftler verglichen auch internationale Ergebnisse. Bei einer Art der Untersuchung wurden Menschen gefragt, wen sie gerne nicht als Nachbarn hätten. Unter den zehn tolerantesten Ländern gaben in Schweden 4, in Spanien 5, in den Niederlanden 7, in Australien 13 und in Deutschland 22 Prozent an, lieber nicht neben Homosexuellen zu wohnen. Unter den letzten zehn Nationen befinden sich Irak mit 80, Katar mit 83, die Türkei mit 85 und Marokko mit 86 Prozent. Schlusslicht ist Aserbaidschan mit 94 Prozent.


Die Autorinnen und Autoren des Berichts im Auftrag der niederländischen Regierung brachten ihre Ergebnisse von 2015 zur Haltung gegenüber Homo-, Bi- und Intersexuellen so auf den Punkt: "Heiraten okay, küssen nicht."


Man könnte solche Ergebnisse natürlich auch umgekehrt auswerten: Dann fanden es 2013 rund zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler nicht "eklig", wenn sich zwei Männer küssen. Und dann hatten in den Niederlanden 96 und in Deutschland 78 Prozent kein Problem mit homosexuellen Nachbarn.

Intoleranz im Topsport

Im für den niederländischen öffentlichen Rundfunk produzierten Podcast De Schaduwspits (wörtlich: der Schattenstürmer; sinngemäß: hängende Spitze im Fußball) fühlte ein Team von Journalistinnen und Journalisten der Toleranz im Topfußball auf den Zahn. Oder vielleicht eher der Intoleranz?

In sieben Folgen vom Mai bis Dezember 2021 machten sie sich auf die Suche nach einem niederländischen Spitzenfußballer, der offen zu seiner Homosexualität steht. In Teil drei gingen sie beispielsweise der Frage nach, warum gleichgeschlechtliche Beziehungen im Frauenfußball kein Problem sind. In den Folgen vier und sechs wurde untersucht, welche Rolle Gespräche in der Kleiderkammer unter Fußballern haben und wie die Vereine zur Homosexualität stehen.

Das Fazit fällt nach der siebten und vorerst letzten Folge ernüchternd aus: Selbst in den toleranten Niederlanden wollte sich kein Profifußballer als schwul outen. Dabei wisse jeder, dass es ein paar homosexuelle Spieler gibt. Diese würden ihre Identität aber verbergen. Warum?

In einem nächsten Schritt versuchte das Journalisten-Team, wenigstens einen heterosexuellen Profifußballer zu finden, der sich für das Outing eines schwulen Kollegen aussprechen würde. Wieder Fehlanzeige.

Der langjährige Sportmanager Rob Jansen – 1978 bekam er als erster Niederländer eine UEFA-Lizenz – liefert im Interview Hinweise auf eine Erklärung: Die Zurückhaltung unter den Fußballern zu diesem Thema könne er nachvollziehen, auch wenn er sie nicht gutheiße.

Er persönlich kenne homosexuelle Profifußballer und meint, für deren Karriere hätte ein Coming-out dramatische Folgen. "Wenn sich ein Fußballer als schwul outet, sinkt sein Marktwert." Der Spieler würde sich damit zur Zielscheibe von Beleidigungen machen.

Jansen geht aber davon aus, dass die Toleranz gegenüber Homosexualität auch im Profifußball nach und nach zunehmen werde. Er stellt sich sogar ein Szenario vor, in dem ein Spieler von einem Coming-out profitieren könne: Diese hätten heute sowieso alle ihre eigenen Instagram-Accounts und würden mit so einer Aktion wahrscheinlich viel Aufmerksamkeit bekommen.

Der Journalist Winfried Baijens aus dem Podcast-Team ärgert sich aber über die Haltung im Profifußball. Beispielsweise sollte gegen Sprechchöre gegen Homosexualität im Fußballstadion stärker vorgegangen werden – in erster Linie von den Fußballern selbst.

Mit dem Verteidiger Bart Vriends vom Erstligisten Sparta Rotterdam fanden sie dann wenigstens einen Profifußballer, der sich zum Thema äußert, wenn auch nur indirekt. Vriends verweist auf den immensen Druck, dem vor allem junge Spieler ausgesetzt seien.

Um als aufstrebendes Talent im Wettbewerb zu bestehen, dürfe man neben dem Fußball keinen anderen Aktivitäten nachgehen. Es gebe großen Druck, nicht negativ aufzufallen und alles dafür zu tun, nicht aus der Reihe zu tanzen. Wenn ein Spieler sich für Toleranz gegenüber Homosexuellen einsetze und dann schlecht spiele, würde man ihm sein Engagement zum Vorwurf machen.

Mit anderen Worten: Im Profifußball herrsche ein hoher Leistungs- und Konformitätsdruck. Im Endeffekt läuft das aber darauf hinaus, dass man heterosexuellen Spielern ihre Sexualität und Partnerschaft – alles natürliche Bedürfnisse – zugesteht, ihren schwulen Mitstreitern allerdings nicht. Dass sich ein homosexueller Fußballer öffentlich zu seiner Identität äußert, heißt ja nicht gleich, dass er Aktivist werden müsste und darum seine Fußballerkarriere vernachlässigt.

Männerbild im 21. Jahrhundert

Dieses Ergebnis befriedigt das Journalisten-Team nicht. Trotz monatelanger Suche konnten sie keinen Profifußballer finden, der öffentlich zu seiner Homosexualität steht.

Sie schließen ihre Serie mit einem Zwischenschritt: Zur Unterstützung schwuler Fußballer, die sich outen möchten, haben sie ein "Star-Team" zusammengestellt. Dieses besteht unter anderem aus der Fußballnationalspielerin Merel van Dongen und dem Olympiasieger Johan Kenkhuis, die offen über ihre Bi- oder Homosexualität sprechen. Dazu kommen bekannte Personen aus der LGBTI+-Szene.

Man könnte aber auch kritisch hinterfragen, wie zeitgemäß das Männerbild des Profifußballs noch ist. Dass man in einem Bereich, in dem sechs- bis siebenstellige Jahresgehälter winken, hohe Leistung und Stressresistenz erwartet, ist das eine. Aber warum sollen Fußballspieler nicht offen zu ihrer Sexualität stehen dürfen?

Eine international vielbeachtete Studie in Science ergab, dass gleichgeschlechtliche Sexualkontakte mit der Zeit normaler wurden. Je später jemand geboren war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit für intime Begegnungen mit dem eigenen Geschlecht. Das deutet auf zunehmende Toleranz hin.

Die Ergebnisse einer 2020 veröffentlichten Befragung von 463 US-amerikanischen Männern ergab jedenfalls, dass in deren Bild von Männlichkeit Heterosexualität keine zentrale Rolle spielte. Mit rund 55 Prozent gab die Mehrheit emotionale Zähheit als wesentliche Eigenschaft an, gefolgt von rund 50 Prozent für Versorgung der Familie.

Zwar nannten im Vergleich dazu mit 11 Prozent nur wenige Heterosexualität. Auf dem dritten Platz landete mit rund 40 Prozent allerdings Vermeidung von Weiblichkeit. Und Homosexualität gilt vielen vielleicht als irgendwie unmännlich.

Für wen ist "toxische Männlichkeit" toxisch?

In feministischen Kreisen wird oft von "toxischer Männlichkeit" gesprochen. Es ist zwar richtig, dass die meisten Straftaten von Männern begangen werden. Die richten sich meistens aber gegen andere Männer, insbesondere jüngere Männer. Diese stehen also nicht nur auf der Täter-, sondern auch der Opferseite auf Platz 1.

In der Öffentlichkeit wird das aber kaum wahrgenommen. So wird über die sehr häufigen Körperverletzungen und schweren Körperverletzungen, die für viele Männer leider zum Leben dazugehören, kaum gesprochen. Die sehr viel selteneren Sexualstraftaten, die einzige Gruppe von Gewaltverbrechen, bei denen Frauen häufiger Opfer sind, erhalten demgegenüber sehr viel Aufmerksamkeit in den Medien.

Auch mit dem Schlagwort "Femizid" werden Morde an Frauen besonders hervorgehoben, obwohl tatsächlich sehr viel mehr Männer ermordet werden. Auch Selbsttötungen sind bei Männern sehr viel häufiger und in so gut wie allen Ländern sterben sie Jahre früher als Frauen. Dabei ist der Unterschied in patriarchaleren Kulturen besonders groß, also für Männer besonders nachteilig.

Die "toxische Männlichkeit", sofern es sie denn gibt, richtet sich in erster Linie gegen das eigene Geschlecht. Dass auch am Anfang des 21. Jahrhunderts schwulen Fußballern ihre Sexualität weniger gegönnt wird als ihren heterosexuellen Kollegen und lesbischen Kolleginnen, ist ein deutliches Zeichen.

Toleranz von gleichgeschlechtlichen Kontakten und Beziehungen unter Männern wären ein wichtiger Schritt zur Abkehr von der Gewalt, unter der die Männer selbst am häufigsten leiden. Vom Fußball könnte hier eine wichtige Signalwirkung ausgehen. Bei Großveranstaltungen Regenbogenflaggen zu zeigen, scheint bisher nicht auszureichen.

Warum sollten sexuelle Vorlieben etwas über die Qualität eines Fußballspielers aussagen? Dessen Leistung zeigt sich doch auf dem Platz und nicht im Bett.

Bi- und Homosexualität – medizinische Begriffe aus dem späten 19. Jahrhundert – wurde in verschiedenen Phasen immer wieder religiös stigmatisiert, kriminalisiert oder pathologisiert. Auch anthropologische Studien zeigen aber, dass sie in so gut wie allen menschlichen Gesellschaften vorkommen. Sie sind in diesem Sinne völlig normal.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.