Wer beerbt den Weltsouverän?

Seite 5: Das Ende der unilateralen Globalisierung

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So mächtig die Vereinigten Staaten als Haupttriebkraft der Globalisierung sind, so weitreichend sind die Folgen, wenn sie als Erdenlenkerin abtreten. Auf den letzten Seiten habe ich diese Folgen in Form von Alternativen erörtert. Dabei bin ich, so hoffe ich, nicht der Versuchung erlegen, nach Wahrscheinlichkeiten zu fischen. Als Siegerin der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts sind die Vereinigten Staaten – im wörtlichen Sinn – aufs Ganze gegangen und haben das Ganze in Betrieb genommen. Andere haben mitgewirkt, aber stets in Gefolgschaft, bis hin zum Boom der wundersamen, sprich: amerikanischen, Kapitalvermehrung. In den letzten fünfzehn Jahren handelten die Vereinigten Staaten als eine Art Weltverweserin. Wenn sie nun große Schwächen zeigen, steht mehr auf dem Spiel als eine Wachablösung in der Position der globalen Führungsmacht.

Parallel zum Kräfteverschleiß der USA vollzieht sich der wirtschaftliche Aufstieg großer Regionalmächte in Eurasien, in Südamerika und – dereinst – in Afrika. Der Verschleiß bedingt den Aufstieg, und dieser jenen, vermutlich aber nicht vollständig. Keine dieser Regionalmächte hat die Kraft und, soweit erkennbar, die Absicht, den noch amtierenden Weltsouverän in seiner einsamen Führungsrolle zu beerben. Aber allen sagt man voraus, dass sie nach einigen weiteren Entwicklungsschritten der Weltwirtschaft bzw. Weltpolitik jeweils ihren eigenen, souveränen Stempel aufdrücken werden. Die Regierungen der aufsteigenden Mächte prüfen bereits, ob sie den Institutionen der Weltwirtschaft, in denen sie nur am Katzentisch sitzen, nicht eigene Institutionen entgegenstellen sollten.

Als gewichtigster Wettbewerber, Rivale oder Mitspieler der USA bzw. „asiatische Vormacht“ oder „zweite Supermacht“ wird regelmäßig die kapitalistische Volksrepublik China eingeschätzt. Ohne über Chinas Potentiale, Stabilitätsprobleme und strategische Allianzen zu fachsimpeln und ohne die „Mantra Demokratie und Menschenrechte“12 aufzusagen, übernehme ich das Expertenurteil, wonach der demographische Gigant eine energische „nationalstaatliche Interessenpolitik“ auf allen Kontinenten betreiben wird – doch eben eine nationalstaatliche, keine universalistisch eingefärbte. Aber auch Indien, Japan, Russland, der Iran, die arabische Allianz, Brasilien als südamerikanische Vormacht und ein erstarkter afrikanischer Bund werden sich weder China noch dem Ex-Alleinherrscher USA als treue Satelliten empfehlen. Diese Prognose halte ich nicht für leichtsinnig. Nur über die Eigenständigkeit der Europäischen Union im 21. Jahrhundert kann gerätselt werden.

Wegweisend ist hier der absehbare Schritt Chinas und anderer Schwellen-Großmächte aus dem Stadium der Defensive in das Stadium der Offensive. Noch gehört China zu den hartnäckigen Käufern amerikanischer Staatsanleihen. Noch festigt sich die gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem geduldig abwartenden ostasiatischen Reich und dem seine Zukunft verkonsumierenden Kraftmeier USA. Noch ist daher die chinesische Währung, der Yuan Renminbi, im Verhältnis zum Dollar „krass unterbewertet“.13 Gegenüber seinen westlichen Handelspartnern verfolgt China eine Doppelstrategie. Das Land ist und bleibt eine gelenkte Marktwirtschaft, das die eigene Industrie durch hohe Schutzzölle abschirmt und die Exporte künstlich verbilligt und zugleich fast wahllos alle Direktinvestitionen aufnimmt, die ihm angetragen werden, sofern die westlichen Konzerne zur Totalverlagerung ihrer Fertigung (etwa von Autos) nach China bereit sind.

Die chinesische Führung legt Lippenbekenntnisse zum Freihandel ab und verhält sich protektionistisch. Den Zutritt zum chinesischen Markt müssen sich viele westliche Unternehmen mit der Weitergabe ihre Produktionsgeheimnisse und der Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit erkaufen. Wo den Chinesen das technologische Wissen nicht freiwillig anvertraut wird, kaufen sie sich mit unabweisbar günstigen Angeboten ein – etwa in die Personalcomputersparte von IBM – oder bauen die westlichen Modelle einfach nach, ohne um Erlaubnis zu bitten.

Die Trendwende in der globalen Wirtschaft setzt ein, wenn China die Währungsführerschaft der Vereinigten Staaten nicht mehr akzeptiert. „Dann fangen die Lektionen für den Westen an.“ (Eberhard Sandschneider) Lektionen welcher Art? Die erste wird eine drastische Aufwertung des Yuan und eine entsprechend drastische Dollar-Abwertung sein – Anzeichen dafür, dass China sich stark genug fühlt, die Rückwirkungen eines wirtschaftlichen Abschwungs in den USA nicht nur zu verkraften, sondern auch für die eigene Marktstrategie zu nutzen. Um keine Exportmarktanteile zu verlieren, werden China und die meisten ASEAN-Länder vermutlich eine gemeinsame asiatische Wirtschaftssphäre schaffen, in der Zölle und Tarife abgebaut werden und eine gemeinsame Währung eingeführt wird.

Die zweite Lektion: Nach abgeschlossenem Wissenstransfer kann China die Technologieführerschaft des Westens in Frage stellen und auf den Weltmärkten der Mikroelektronik, des Mobilfunks, der Haushaltswaren, der Internet-Auktion und der Bauwirtschaft in die Offensive gehen. China kann und muss die USA als Asiens einflussreichste politische Macht verdrängen und „die geopolitische Umgebung der Öl produzierenden Regionen der Welt revolutionieren“ (Marc Faber), indem es im Mittleren Osten und in Zentralasien das Vorkaufsrecht erwirbt, im Einvernehmen oder in Auseinandersetzung mit dem Iran und Russland.

Die dritte Lektion wird keine Überraschung sein, aber eine Revision der puristischen Kapitaltheorie als Welterklärungstheorie erzwingen. Das Finanzkapital wird sich im Einflussbereich der chinesischen Weltmacht einer politischen Dressur unterziehen. Die chinesischen Banken und Investmentgesellschaften werden ihre Rentabilitätsversprechen gegenüber ausländischen Kapitalanlegern nach den Vorgaben der Staatsführung formulieren, d.h. selektiv staffeln und mit politischen Rücktrittsklauseln versehen. Die unvermeidlichen Verluste (Kapitalvernichtung) tragen die vorgewarnten Kapitalanleger und die chinesische Bevölkerung gemeinsam. Diese ist es ohnehin gewohnt, dass der Preis der Arbeitskraft weit überwiegend marktfern festgelegt wird – bis hin zum Nulltarif.

Auch im China des fortgeschrittenen 21. Jahrhunderts wird nicht der einzelne (Geistes-)Arbeiter und die einzelne Arbeiterin die ökonomische und statistische Basiseinheit der Produktion sein, sondern das Kollektiv, das die Nachfrage nach individuell unerfindlichen Maßstäben definiert. In Indien verhält es sich ähnlich. Weder der Markt der Arbeit, der Waren und der Dienstleistungen noch der Finanzmarkt wird in Asien uneingeschränkt globalisiert sein. Diese Märkte werden vielmehr „global“ im staatlich genehmen Sinn fungieren. Asiatische Produkte und Anleger werden Vorrang haben, und die Region wird weitaus weniger von Exporten in den Westen abhängig sein als gegenwärtig. „Der Handel innerhalb Asiens wird dominieren, weil die Region kaum Produkte aus dem Westen benötigt.“ Auch und erst recht in zwanzig oder fünfzig Jahren wird für Ostasien gelten: Eigensicherung geht vor Welteroberung.

Das ist Standortpolitik und zugleich etwas anderes. Es kündigt ein Mit- und Gegeneinander raumgebundener Großmächte an.

Die Weltordnungsmacht USA entwarf und antizipierte auf ihrem nordamerikanischen Territorium die vereinigte Erde. Nachdem die Landnahme in der Neuen Welt beendet worden war, griff sie unter dem Namen „Dollar“ in der virtuellen Selbstvermehrung des Kapitals weiter um sich. Zählt man die sattsam bekannten Merkmale der Globalisierung auf („Internationalisierung der Märkte“, „Abbau von Handelsbeschränkungen und Investitionsbarrieren“, „Liberalisierung des Kapitalverkehrs“ und „Deregulierung nationaler Finanzmärkte“), bleibt nichts mehr zu begreifen übrig. Als Inbegriff des Allgemeingültigen erklären sich diese Merkmale von selbst. Sie bezeichnen durchweg eine Öffnung, eine Überwindung und einen Abbau, aber nie ein Wohin. Dabei suggeriert das Aufsagen der Globalisierungsmerkmale, sie initiierten eine gerichtete Bewegung. Tatsächlich aber benennen sie nur ein Verschwinden und die Verfügung über das Verschwinden. Dieses Sichöffnen ins Nichts ist von Anfang an ein Grundkurs in Virtualisierung. Wikipedia definiert Virtualisierung behelfsmäßig als: „Methoden, die es erlauben, Ressourcen eines Computers aufzuteilen“. Das virtualisierte Kapital versucht mit immer neuen Methoden, die begrenzten Ressourcen der Erde aufzuteilen und mehr aus sich zu machen. Wir können darin kein Übel erkennen, denn die Möglichkeit dazu geht in der Virtualisierung verloren.

Gegenwärtig scheitert die amerikanische Globalisierung. Die aus ihr resultierende Entrückung der Welt in die Möglichkeitsform ist allerdings nicht rückgängig zu machen. Aber lässt sich die Vermöglichung vielleicht an die Erde zurückbinden und vervielfältigen? Diese Frage beantwortet sich politisch, in der Auseinandersetzung. Jedenfalls entsteht eine andere Struktur des Weltkapitalverkehrs.

Nachdem sich die Vereinigten Staaten vor aller Welt übernommen haben, wandert die politische Souveränität zu regional verankerten Mächten. Sie sind souverän, sofern sie über Kriegsbeginn und Kriegsteilnahme entscheiden, sofern sie Bürgerkriege beenden können, sofern sie zwischen mehreren Reservewährungen wählen können, sofern sie den Kapitalverkehr regulieren – und sofern sie selbständig und im Zusammenwirken auf globale Bedrohungen wie Klimawandel, Verknappung der Rohstoffe und Pandemien reagieren.