Wer bestimmt die Regeln der "regelbasierten Weltordnung"?

Grundlagen westlicher Macht, an die sich deutsche Politiker ungern erinnern, sind im globalen Süden nicht vergessen. Archivbild (Kamerun, ca. 1894): Illustrierte Zeitung / Wikimedia Commons

Der globale Westen redet viel darüber. Das zeigt, dass er die Regeln immer weniger bestimmt. Doch die Mehrheit der Weltbevölkerung hat keinen Grund, sich auf eine Seite zu stellen.

Da war sie wieder, die Phrase von der regelbasierten Weltordnung, die von China und Russland verletzt beziehungsweise missachtet werde. Es ist kein Zufall, dass diese Phrase auf dem G7-Außenministertreffen in Japan vor einigen Tagen besonders häufig strapaziert wurde. Denn dort trafen sich Staaten, die tatsächlich für Jahrzehnte die Regeln der Welt bestimmt haben – und die mittlerweile registrieren, dass die Welt heute eben nicht mehr nach ihren Regeln spielt.

Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, das Vereinigte Königreich und die USA – sowie die Europäische Union mit G7-Beobachterstatus – das ist der globale Westen, der sich zu lange einbildete, er wäre die Welt. Dabei waren vor allem kolonialistische Ausbeutung und Zwangsarbeit – im Falle Deutschlands auch die nationalsozialistische Raubpolitik – das Fundament seiner Macht. Doch die Welt hat sich verändert. Längst sind andere Staaten wie China und Indien ökonomisch potenter.

Wenn die ökonomische Macht schwindet, besinnt man sich auf "Werte"

Als die heutigen G7-Staaten die Regeln der Weltordnung bestimmten, redeten sie kaum darüber. Die Phrase von der regelbasierten Weltordnung hat erst Konjunktur, seit immer deutlicher wird, dass sie ihre Macht verlieren werden und die Regeln zumindest nicht mehr alleine bestimmen können. Das ist aber nicht verwunderlich. Das Lamento von den verletzten Regeln beginnt auch im Kleinen meistens dann, wenn sie infrage gestellt oder missachtet werden.

Wenn die Regeln hegemonial sind und kaum in Frage gestellt werden, dann wird auch kaum darüber geredet. Das ist gerade das Wesen der Hegemonie, dass die Macht eben gar nicht infrage gestellt wird – dann wird auch nicht darüber geredet, sondern die Mächtigen herrschen einfach. Es ist eben ein Zeichen der Defensive, dass auf den G7-Treffen so viel über die verletzte regelbasierte Weltordnung lamentiert wurde.

Das zeigt, dass die Regeln eben nicht mehr nach ihrer Melodie funktionieren. Hier zeigt sich dann auch, dass eben die Ökonomie die Grundlage ist, auf der Macht und Einfluss von Staaten funktionieren. Und da führen die G7-Staaten eben längst nicht mehr. Deshalb wird auch so viel über Werte geredet, die angeblich universell sind – auch wenn westliche Staaten wie Deutschland hier in der Praxis erkennbar mit zweierlei Maß messen, etwa bei Energiepartnerschaften mit reaktionären Golfmonarchien als Alternative zur Abhängigkeit von russischen Öl- und Gaslieferungen.

Durch die Betonung ideeller Werte wollen Staaten ihre ökonomische Schwäche ausgleichen: Sie bilden sich ein, die ganze Welt zu sein, weil sie angeblich universelle Werte vertreten. Nur wissen auch die Politiker und Funktionäre des Wertewestens, dass damit die ökonomische Schwäche nicht kompensiert werden kann. Daher versucht der Wertewesten seinen schrumpfenden Einfluss als guter Materialisten nicht mit dem Beschwören von Werten, sondern durch Embargos und Wirtschaftskriege gegen die aufstrebenden Kontrahenten aufzuhalten.

Das Beschwören von Werten ist dann nur die Begleitmusik, die vor allem für liberale Kreise in den Staaten des Wertewesten bestimmt ist. Dort sind es vor allem Teile der Kleinbourgeoisie und der intellektuellen Kreise, die westliche Werte wie eine Monstranz vor sich her tragen und schnell beleidigt sind, wenn jemand an die materiellen Grundlagen ihrer bisherigen Macht erinnert.

Die Stichworte lauten ursprüngliche Akkumulation, Kolonialismus und Ausbeutung von Arbeitskraft in aller Welt. Nur braucht man den Menschen der aufstrebenden Mächte China und Indien über Kolonialismus und westliche Ausbeutung nicht aus den Büchern zu erzählen. Diese Länder waren schließlich Opfer des Kolonialismus in einer Zeit, als die heutigen G7-Staaten natürlich auch in Konkurrenz zueinander die Regeln der Welt bestimmten.

Die ehemaligen Kolonialmächte und die regelbasierte Weltordnung

Daher braucht sich der Wertewesten auch nicht zu wundern, wenn ihn Staaten des globalen Südens immer wieder an die Geschichte des Kolonialismus erinnern, also ihm die blutigen Grundlagen seiner Herrschaft immer wieder vor Augen führen. Dann bekommt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in Afrika schon mal zu hören, dass China Afrika nicht kolonisiert hat.

Russland dagegen genießt in verschiedenen afrikanischen Staaten immer noch Vertrauen, weil dort noch Erinnerung an eine Zeit lebendig ist, in der die Sowjetunion und Kuba einen wichtigen Beitrag zur Zerschlagung des südafrikanischen Apartheidsystems leisteten. Dieses System war mit dem heutigen Wertewesten eng verbandelt – und es war nicht die Beschwörung westlicher Werte, die die Apartheid besiegte, sondern die militärische Hilfe von Kuba für die Frontstaaten gegen Südafrika, die sich in den 1970er-Jahren vom Kolonialismus Portugals und Großbritannien befreit hatten.

Auch ist in vielen Ländern des globalen Südens nicht vergessen, dass das südafrikanische Apartheidsystem stark war, als die Regeln des Wertewestens dominierten.

Kuba wird nicht verziehen, dass es die regelbasierte Weltordnung verletzt hat

Es war Kuba, dass die damalige regelbasierte Weltordnung verletzt hat, in dem es nicht nur Waffen, sondern auch Soldaten für den Kampf gegen die Apartheid auf den afrikanischen Kontinent stellte. Auch damals schrie der Westen auf und warf Kuba vor, die Regeln zu verletzen. Das tat die kleine Insel schon durch die kubanische Revolution so nah an der Küste der USA, eine Revolution, die dann auch noch mit Hilfe der Sowjetunion überlebte. Das hat der Wertewesten den Menschen auf Kuba nicht verziehen. Deswegen gibt es seit mehr als 60 Jahren eine Kampagne gegen die Insel und das USA-Embargo.

Doch noch immer fährt der Wertewesten gegen Kuba eine Kampagne wegen mangelnder Demokratie. Klar ist, dass es auf Kuba viel Autoritarismus gibt und dass es eine linke Bewegung braucht, um diese Strukturen zu überwinden, ohne wieder vom Wertewesten vereinnahmt zu werden. Doch wenn heute Kuba auch in liberalen Medien Kuba besonders angegriffen wird – und nicht etwa die USA, die mit dem Embargo beständig Regeln verletzen, dann ist das Teil der Rache für Revolution 1959, die die damalige wertebasierte Weltordnung verletzt hat.

Heraus kommen dabei Kommentare wie der des taz-Außenpolitik-Chefs Bernd Pickert, der dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva in einem Kommentar "moralisch-politischen Bankrott" vorwirft. Was genau bringt Pickert gegen Lula auf? Der Brasilianer stellt sich im ukrainisch-russischen Konflikt nicht auf eine Seite, kritisiert auch den Wertewesten für seine Kriegsrhetorik, hat außenpolitisch eine eigene Agenda und empfing den russischen Außenminister zum Gespräch.

Erst war er in Brasilien, jetzt reist Russlands Außenminister Sergei Lawrow weiter nach Venezuela, Kuba und Nicaragua. Damit stellt Lawrow Brasiliens Präsidenten Lula da Silva genau da hin, wo ihn seine rechten innenpolitischen Gegner:innen ihn im Wahlkampf immer stellen wollten: in eine Reihe mit lateinamerikanischen Diktatoren.


Bernd Pickert, taz

Wenn die Subalternen ihre eigenen Regeln setzen

Kuba, Nicaragua und Venezuela sind Staaten, die zu verschiedenen Zeiten die Regeln des Wertewestens verletzt haben – und das war für deren Bevölkerung auf jeden Fall ein Gewinn. Das bedeutet allerdings nicht, sich heute bedingungslos hinter die Regierungen dieser Länder zu stellen.

Kritik an den autoritären innenpolitischen Entwicklungen in Nicaragua und Venezuela ist notwendig. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass die Staaten, die sich aktuell anschicken, die Regeln der Weltordnung zu bestimmen, wie Indien und China, ebenfalls Klassengesellschaften sind, die einen Großteil ihrer Einwohner ausbeuten und unterdrücken.

Widerstand dagegen ist notwendig und unterstützenswert. Das bedeutet aber nicht, sich auf die Seite westlicher Regierungen zu stellen, die eben aktuell nicht mehr die Regeln dieser Weltordnung bestimmen. Eine neue Welt ist nur möglich, wenn sich die Subalternen nicht in die Auseinandersetzung um die regelbasierte Weltordnung hineinziehen lassen. Nur dann kann erreicht werden, dass die Mehrheit der Bevölkerung aller Länder die Regeln der neuen Weltordnung bestimmt.