Wer ist besonders von der Corona-Pandemie betroffen?
Immer wieder wird behauptet, es wären vor allem die alten Menschen. Aber auch hier gilt, wer von Generationen redet, will von Klassen nichts mehr wissen
"Immer weiter im Normalbetrieb" lautet die Überschrift der Kolumne von Tim Wolff in der April-Ausgabe der Monatszeitschrift Konkret. Dort kritisiert Wolff zu Recht, dass auch in Corona-Zeiten die Verwertungsbedingungen des Kapitals die oberste Maxime ist. Deshalb werden im Zweifel die Parks und nicht die Fabriken geschlossen und auch die Schulen sollen möglichst offenbleiben, damit die Eltern weiter ihrer Lohnarbeit nachgehen kennen, so die Kritik.
Doch auch Tim Wolff verzichtet leider nicht auf eine in linken Kreisen häufig gebrauchte These, dass vornehmlich die älteren Menschen die Leidtragenden in der Corona-Krise seien.
Dann doch lieber die für den Markt unwichtig gewordenen Alten, die man sonst so gern zu vertreten behauptet, verrecken lassen, bevor man sich ernsthaft mit den Ängsten und Nöten des Nachwuchses beschäftigen muss.
Tim Wolff, Konkret 4/2021
Wolff liefert keinen Beleg für seine These, die Politik würde zumindest in Kauf nehmen, dass alte Menschen in der Pandemie sterben. Belege dafür dürften auch nicht so einfach zu finden sein. Die recht erfolgreiche Impfkampagne bei alten Menschen spricht doch eher dagegen, dass ausgerechnet die alten Menschen die Hauptleidtragenden sein sollen. Trotzdem hält sich diese These seit Beginn der Pandemie auch in linken Kreisen.
Da musste sich - nicht zu Unrecht - vor einigen Monaten Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer Kritik für Äußerungen anhören, die suggerierten, ihm sei das Leben der Senioren nicht so wichtig. Dabei wird aber kaum registriert, dass über Tübingen hinaus mittlerweile der Umgang mit den Seniorinnen und Senioren in der Neckarstadt gelobt wird.
Das Infektionsrisiko dort sei für ältere Menschen wesentlich geringer als in anderen Städten. Nun wäre es doch interessant gewesen, wie die vehemente Kritik an Palmer wegen seiner angeblichen Ignoranz gegenüber alten Menschen mit der Meldung zusammenpasst, dass genau diese Altersgruppe in Tübingen gut geschützt ist. Hat sich Palmer von der Kritik beeindrucken lassen? Oder hatte die Kritik an Palmer überhaupt keine Berechtigung? Das wohl nicht. Doch die Kritik litt schon von Anfang an daran, dass sie sehr allgemein blieb.
Wer sind die Alten und woran litten sie?
Da stellen sich natürlich mehrere Fragen. Was sind die Ursachen für das angebliche Leiden der Senioren? Ist es in erster Linie das Virus oder auch die Maßnahmen zu dessen Eindämmung? Schließlich gab es schon seit Beginn der Corona-Pandemie die Klage, dass ältere Menschen besonders an den Besuchsverboten litten. Selbst nahe Angehörige konnten sie nicht mehr besuchen, wenn sie in Pflegeeinrichtungen lebten.
Solche mehr oder weniger freiwilligen (Selbst)Isolationen kann man natürlich besser ertragen, wenn man eine große Wohnung oder womöglich ein eigenes Haus mit Garten oder wenigstens einen Balkon hat.
Wenn man dagegen in einer kleinen Wohnung lebt, ist solche Isolation wesentlich schlechter zu ertragen. Hier kommen wir auch zur Frage, warum die Senioren in Tübingen meist sehr gut versorgt sind. In der alten Universitätsstadt ist auch unter Seniorinnen und Senioren der Anteil der Menschen mit guter Pension und einem Haus relativ groß. Anders sieht es beispielsweise in Köln-Chorweiler aus, einer Hochhaussiedlung, die in den letzten Tagen auch als Brennpunktsiedlung in die Impfdiskussion geraten ist.
Selbst in den bürgerlichen Medien wurde darüber diskutiert, dass Corona auch eine soziale Dimension hat. Die aber geht verloren, wenn auch von Linken recht undifferenziert von den Alten geredet wird, die unter Corona besonders zu leiden haben. Auch hier gilt, wer von Generationen redet, will von Klassen nichts mehr wissen.
Und wer die Alten zu den bevorzugten Leidtragenden von Corona machen will, verschweigt, dass es sehr reiche und wohlhabende Senioren gibt, die unter Corona-Bedingungen sicher Einschränkungen erleiden, aber trotzdem recht gut leben können. Aber es gibt auch den zunehmend größer werdenden Kreis von Rentnern, die mit Altersarmut konfrontiert sind und womöglich noch einige Jobs machen müssen, um über die Runden zu kommen.
Sie sind wie alle Menschen mit geringen Einkommen natürlich auch von Corona, aber auch von den Folgen der Corona-Eindämmungsmaßnahmen besonders negativ betroffen. Da in der Beamtenstadt Tübingen der Anteil der wohlhabenden Bevölkerung wesentlich größer ist als in der Kölner Hochhaussiedlung Chorweiler, geht es den Senioren in der Neckarstadt besser als in der Metropole am Rhein.
Eine Linke, die scheinbar keine Klassen mehr kennt, kann das Phänomen nicht erfassen und muss dann, wie Tim Wolff, recht undifferenziert von den Alten, die man angeblich sterben lassen will, schreiben.
Menschen mit migrantischen Hintergrund besonders betroffen
Die Konzentration auf die Alten als Hauptleidtragende von Corona muss bei einer Linken, die eigentlich viel Wert auf ihre Diversität legt, sehr verwundern. Schließlich ist unter den alten Menschen der Anteil der Menschen besonders groß, die schon über Generationen in Deutschland gelebt haben. Bei den jüngeren Menschen hingegen ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund wesentlich größer. Köln-Chorweiler ist dafür ein gutes Beispiel. Der Publizist Felix Klopotek liefert in der aktuellen Jungle Word einen guten Überblick über die proletarischen Stadtteile Kölns.
Hier, wo in Mülheim, Kalk oder Porz mehr Arbeitslose, mehr Wohngeldempfänger und mehr Menschen mit Migrationshintergrund zu Hause sind, erkranken die Bürger am häufigsten an Covid-19.
Felix Klopotek, Jungle World
Er stellt auch den Zusammenhang her zwischen dem persönlichen Infektionsrisiko und der Position der Menschen in der Klassengesellschaft. Was für Köln gilt, betrifft natürlich auch alle anderen größeren Städte in Deutschland und anderen Ländern.
Klar ist, dass das Virus besonders dort stark grassiert, wo die Menschen gedrängt zusammenwohnen, wo sie besonders belastenden Berufen nachgehen, in denen sie gesundheitlich zu wenig geschützt sind.
"Beachten Sie den Unterschied in der Inzidenz zwischen den beiden sozialen Brennpunkten Hahnwald (Villenviertel, 0,0) und Chorweiler (Hochhaussiedlung, 520,1). In wessen Interesse ist es, jetzt über 'Lockerungen' nachzudenken?", twitterte der linksliberale Jan Böhmermann.
Auch bei Jüngeren kommt es auf die Klasse an
Natürlich gilt auch für die Schülerinnen und die Schüler, dass die Klassenpositionierung in der Gesellschaft und nicht nur in der Schule eine Rolle spielt. Daher geht es auch beim Umgang mit den Jüngeren eben nicht nur um eine Frage der Solidarität der Generationen, wie es eine Taz-Kommentatorin empfiehlt.
Der Vorschlag, den der bereits am Anfang zitierte Tim Wolff in seiner Konkret-Kolumne macht, scheint doch sehr mittelstandsorientiert.
Wenn es der Politik tatsächlich um "Bindungslücken" (Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, SPD) bei jungen Menschen ginge, die durch (im Ergebnis unzureichende) Maßnahmen gegen eine Pandemie entstanden sind, müsste sie die Schulen erst recht schließen und den Kindern und Jugendlichen Sozialkontakte außerhalb einer sinnlos aufrechterhaltenen Lehrplanerfüllung ermöglichen.
Tim Wolff, Konkret
Das kann eine Lösung für Kinder von wohlhabenden Familien sein, die womöglich noch in Homeschooling unterrichtet werden. Für die Kinder aus den proletarischen Familien aber ist es wichtig, dass die Schulen möglichst geöffnet blieben. Zudem sollten es Gesamtschulen sein, in die Kinder aller Bevölkerungsschichten einbezogen werden. Es ist wichtig, dass die Schule ein Ort bleibt, wo die gesamte Gesellschaft hingeht.
Mit seinem Vorschlag, die Schule zu schließen, bleibt Wolff doch ebenso an den Interessen des Mittelstands orientiert, wie mit seinem undifferenzierten Lamento über die Alten, die in der Corona-Krise sterben sollen. Da sind die aktiven Schülerinnen und Schüler weiter, die sich in der Bewegung für eine gerechte Bildung eben genau für eine solche Schule einsetzen.