Wer ist ein Afghane?

Religiöse und Stammesführer in Kandahar. Bild: DoD

Mit der geplanten Einführung elektronischer Personalausweise entzünden sich Auseinandersetzungen im Vielvölkerstaat, der von den Paschtunen dominiert wird

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Bereits seit geraumer Zeit plant die afghanische Regierung die Einführung elektronischer Personalausweise. Dies hat gute Gründe. Bis heute benutzen viele Afghanen lediglich ihre Geburtsurkunde ("tazkira"), ein Hand geschriebenes DIN4-Blatt, als Ausweis. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung besitzt allerdings nicht einmal dieses Dokument. Der neue Personalausweis würde nicht nur dieses Problem aus der Welt schaffen, sondern auch Dingen wie Wahlbetrug - sowohl Parlamentswahlen als auch Präsidentschaftswahlen stehen bald an - entgegenwirken.

Im Schatten dieser Pläne ist allerdings eine problematische Debatte wiederaufgeflammt. Die Nationalität der Bürger wird in den Ausweisen nämlich als "afghanisch" vermerkt. Konkret geht es hier um das Wort "Afghane", das auf den neuen Ausweisen zu lesen sein wird. Einige Minderheiten lehnen die Bezeichnung allerdings ab und meinen, dass "Afghane" in der Vergangenheit ein Synonym für die Paschtunen, der dominierenden Ethnie Afghanistans, gewesen sei.

Afghanistan ist stets ein Vielvölkerstaat gewesen. Im Land leben Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Hazara und andere Völker seit Jahrhunderten. Die Geschichte des modernen, afghanischen Nationalstaates wurde allerdings von Paschtunen geprägt. Die großen Dynastien des Landes, etwa jene der Durrani und der Mohammadzai, sind bis ins späte 20. Jahrhundert paschtunische gewesen.

Wie in vielen anderen postkolonialen Nationalstaaten in der Region spielte die europäische Idee des Nationalismus eine große Rolle bei der Entstehung des Staates. Der afghanische König Amanullah, der Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die Briten im 3. Anglo-Afghanischen Krieg kämpfte, nahm sich beim Ausbau des Staates ein Vorbild an der Türkei und dem Iran. Demnach war es auch kein Zufall, dass Kemal Atatürk und Reza Pahlavi zu den engsten Freunden Amanullahs zählten. Auch der Iran und die Türkei sind Vielvölkerstaaten, in denen ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung keine ethnischen Türken oder Iraner sind.

Mit dem Lauf der Zeit beschrieben die Wörter allerdings nicht mehr eine einzelne Ethnie, sondern das Nationalvolk. Da dies zum Teil mit brutaler Gewalt geschah, waren Probleme vorprogrammiert. In der Türkei macht dies etwa der Kurdenkonflikt deutlich.

Die 2004 erneuerte afghanische Verfassung besagt, dass jeder Bürger Afghanistans als "Afghane" zu bezeichnen ist. In den vergangenen Jahrzehnten wurden auch in manchen innerafghanischen Debatten lediglich Paschtunen als Afghanen bezeichnet. Doch seit den 1950er-Jahren galten immer mehr alle Bürger des Landes als Afghanen.

Es waren allerdings die Briten, die lediglich die Paschtunen Afghanen nannten. Es grenzt an Ironie, dass die damaligen Kolonialisten und Grenzleger nun abermals die afghanische Debatte mehr oder weniger mitbestimmen. Denn seitens der Vertreter einiger Minderheiten wird genau diese Argumentation verwendet, um sich gegen den Begriff zu wehren. Teils steht sogar der Vorwurf im Raum, die Identität von Minderheiten auslöschen zu wollen.

Ethnisch motivierte Debatten gefährden die fragile politische Situation

Ethnisch motivierte Debatten in Afghanistan haben zugenommen, seit Präsident Ashraf Ghani 2014 das Amt übernommen hat. Ghani, der wie sein Vorgänger Karzai ein Paschtune ist, wird zum Teil vorgeworfen, gezielt gegen andere Ethnien vorzugehen.

Ghanis Regierung der "Nationalen Einheit" besteht zur Hälfte aus seinen eigenen Leuten, hauptsächlich Paschtunen, zur anderen Hälfte jedoch zunehmend aus Tadschiken der Partei Jamiat-e Islami. Dies hat damit zu tun, dass Regierungschef (CEO) Abdullah Abdullah neben Ghani ebenfalls zum Kopf der Regierung gehört.

Diese Konstellation, die de facto in der afghanischen Verfassung nicht vorgesehen ist, kam zustande, als während der Präsidentschaftswahlen 2014 der Vorwurf des Wahlbetruges immer lauter wurde. Daraufhin musste der damalige US-Außenminister John Kerry musste mehrfach nach Kabul reisen, um Ghani und Abdullah - die damaligen Kontrahenten - zu versöhnen.

Mitglieder anderer Ethnien lassen sich ebenfalls in Ghanis Kabinett finden. Sein erster Stellvertreter, der berüchtigte Warlord Abdul Rashid Dostum, ist ein Usbeke, befindet sich aufgrund von Vergewaltigungsvorwürfen allerdings im türkischen Exil. Ghanis zweiter Vizepräsident, Sarwar Danish, stammt aus der Minderheit der Hazara (Neue Warlord-Geschichten)

Dass die Debatte um die neuen Personalausweise derart heiß geführt wird, hat allerdings auch andere Gründe. Ende 2017 setzte Ghani den mächtigen Gouverneur der nördlichen Provinz Balkh, Atta Mohammad Noor, ab. Der tadschikische Kriegsfürst Noor, einer der Führer der Jamiat-e Islami, hat sich nach dem Einmarsch der NATO sein provinzielles Privatimperium errichtet und galt lange als unantastbar. Für westliche Militärs, darunter auch die Bundeswehr, galt er als wichtiger Verbündeter im Land.

Das hat sich nun geändert. Ghanis Schritte gegen Noor wurden wohl auch von seinen Unterstützern in Washington abgesegnet und selbst Abdullah stand auf der Seite des Präsidenten. Seinen Posten tritt Noor allerdings weiterhin nicht ab. Stattdessen sitzt der Kriegsfürst weiterhin in Mazar-e Sharif, der Hauptstadt Balkhs, und versucht, von der Ausweisdebatte zu profitieren, indem er sich als Führer der Tadschiken präsentiert (Regierungsinterne Machtkämpfe).

Für die afghanische Gesellschaft sind derartige Debatten in diesen Tagen allerdings hochgefährlich. Zu fragil ist die gegenwärtige Lage. Durch Soziale Medien, YouTube und Fernsehsender, die in den urbanen Gebieten - allen voran in Kabul - omnipräsent sind, wird zusätzliches Öl ins Feuer gegossen. Es würde wahrscheinlich allen Parteien gut tun, genannte Medien für einige Tage wegzuschalten. Vielleicht würde dann die Debatte sogar schneller verschwinden, als man erwartet hätte.

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