Wer steckt hinter dem syrischen Giftgas-Angriff?
CHP-Politiker machen aufgrund von Gerichtsakten den türkischen Geheimdienst und islamistische Milizen verantwortlich
Selbst für syrische Verhältnisse war es gigantisches Massaker. Bis zu 1700 Menschen starben am 21. August 2013 in der Region Ghouta. Doch auch zwei Jahre nach dem Giftgasangriff sind die die Hintergründe unklar. Nun machen türkische Politiker die Regierung ihres Landes verantwortlich.
Es ist eines dieser verwackelten Handyvideos, die zu den täglichen Chronisten des Syrienkrieges geworden sind und deren Bilder dennoch kaum zu ertragen sind. Blasse Gesichter starren da in die Kamera. Nur noch der Schaum vor dem Mund zeigt so etwas wie Leben. Auf dem Boden liegen Kinderkörper aufgereiht. Dazwischen kauern schreiende Eltern und pressen Sanitäter ihre Hände auf Brustkörper. "Sarin-Gas-Angriff Syrien" steht auf Arabisch über dem YouTube-Clip.
Am 21. August 2013 geschah einer der schlimmsten dieser Angriffe - nicht nur in der Geschichte Syriens. 355 Tote zählten Ärzte ohne Grenzen an diesem Tag in der südwestlich von Damaskus gelegenen Region Ghouta. Die US-Regierung sprach von 1429, die oppositionelle Freie Syrische Armee sogar von 1729 Todesopfern.
Barack Obama sah eine rote Linie überschritten. Auch Frankreich und Großbritannien wollten mit ihren Militärs einschreiten. Als "unleugbar" bezeichnete US-Außenminister John Kerry damals die Täterschaft von Präsidents Bashar Al-Assad und seiner Syrischen Armee. Und dennoch nahmen die Spekulationen über die wahren Hintergründe des Angriffs bis heute kein Ende.
Der türkische Geheimdienst soll hinter dem Angriff stecken
Mehr als zwei Jahre später sitzen am 21. Oktober 2015 zwei türkische Parlamentsabgeordnete an einem Tisch in Istanbul und erzählen ihre Version der Ereignisse. Eren Erdem und Ali Şeker heißen die beiden Co-Vorsitzenden der oppositionellen CHP-Fraktion im türkischen Parlament. Sie wollen neue Beweise vorlegen: Dafür, dass nicht die syrische Armee, sondern dschihadistische Milizen den Angriff ausgeführt haben. Und fafür, dass nicht Assad, sondern der türkische Geheimdienst hinter dem Angriff von Ghouta steckt.
Hintergrund der Pressekonferenz sind Ermittlungen eines Gerichts im südtürkischen Adana. Die Anklage warf dort 13 Türken vor, Giftgas von der Türkei nach Syrien geschmuggelt haben. Doch dem Gericht reichten die Indizien nicht für eine Verurteilung, es ließ die Männer nach drei Monaten wieder frei. Erdem und Şeker hatten nach eigener Aussage Einblick in die Gerichtsakten und kommen bei ihrer Pressekonferenz zu einer ganz anderen Bewertung als das Gericht.
Unter anderem Telefonmitschnitte würden zeigen, dass "einige Unternehmer in der Türkei eine wesentliche Rolle bei der Beschaffung des Saringases gespielt haben", sagt Erdem später gegenüber der türkischen Zeitung Zaman.
Über türkische Mittelsmänner sei das Gas an "extremistische Gruppen in Syrien" geliefert worden. Und mehr noch: Nicht nur türkische Privatpersonen seien in den Giftgasschmuggel involviert gewesen. Erdem und Şeker beschuldigen den türkischen Geheimdienst am Angriff vom 21. August 2013 beteiligt gewesen zu sein.
Ein absurd verzweifelter Angriff?
Damit bekräftigen die beiden CHP-Abgeordneten eine Darstellung vom Angriff auf Ghouta, der die meisten westlichen Staaten bisher vehement widersprechen. Vor allem zwei Narrative existieren über die Vorgänge vom 21. August 2013: Die Mehrheit der westlichen Staaten (und der westlichen Medien) machten von Beginn an die syrische Armee und Regierung für den Angriff verantwortlich. Schon am 30. August legte das Weiße Haus einen umfangreichen Bericht aus Geheimdienstkarten und Protokollen abgehörter Gespräche vor, die den Angriff als "verzweifelten Versuch [der syrischen Armee], Rebellen aus verschiedenen Vororten östlich von Damaskus zurückzudrängen", darstellten.
Die syrische Regierung, Russland und Iran machten hingegen oppositionelle Milizen für den Angriff verantwortlich und verwiesen auf die offensichtliche Absurdität eines solchen Angriffes: Nur wenige Kilometer entfernt befanden sich damals UN-Chemiewaffenkontrolleure, die eigentlich einen vorangegangenen Angriff untersuchen sollten. Deshalb und aufgrund der immer wieder geäußerten "Roten Linie" Obamas, hätte die syrische Regierung im Falle eines Angriffes fest damit rechnen müssen, von den USA militärisch zur Rechenschaft gezogen zu werden. Stattdessen, so Assad ein paar Tage nach dem Angriff, habe der Rebellenangriff, einen Vorwand für ein militärisches Eingreifen der USA liefern sollen.
Ziel der türkischen Regierung sei der Sturz Assads gewesen
Auch die beiden CHP-Abgeordneten Erdem und Şeker vertreten diese These. Das Ziel der türkischen Regierung sei "das Gleiche gewesen wie beim illegalen Transfer von Waffen an dieselbe Oppositionsgruppen: Bashar al-Assad stürzen", sagt Erdem gegenüber der Tageszeitung Zaman. Und Şeker macht Präsident Erdogan persönlich für den Angriff verantwortlich: "Der ehemalige Premierminister und der ehemalige Innenminister sollten zur Verantwortung gezogen werden", schließlich habe man "alle Details darüber, wie das Sarin-Gas in der Türkei beschafft und an die Terroristen geliefert wurde". Doch der Öffentlichkeit vorgelegt haben Erdem und Şeker bisher keinen ihrer Beweise.
Dennoch passen ihre Vorwürfe zu bisherigen Veröffentlichungen über das, was am 21. August 2013 passierte. Nur auf einen Nenner konnten sich alle bisherigen Untersuchungen bisher einigen: Es war Sarin-Gas. Auch eine UN-Untersuchung bestätigte lediglich, was ohnehin offensichtlich war: Mit dem Kampfstoff bestückte Boden-Boden-Raketen seien zur fraglichen Zeit am fraglichen Ort eingeschlagen. Wer sie abschoss, sagten die Ermittler damals nicht.
Sicherer war sich die US-Regierung. Eine Woche nach dem Angriff legte das Weiße Haus einen Bericht und eine Karte der Region vor, die belegen sollen, dass nur Regime-Einheiten den Anschlag begehen konnten. Nur diese hätten über die nötigen ballistischen Raketen in der notwendigen Entfernung zum Anschlagsort verfügt.
Dieselben Karten haben sich Anfang dieses Jahres zwei Waffenexperten angesehen. Doch sie kommen zum gegenteiligen Ergebnis. In ihrem Bericht urteilten der ehemalige UN-Waffenkontrolleur Richard Lloyd und Professor Theodor Postol vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), die Reichweite der eingesetzten Rakete sei zu kurz gewesen, als dass sie aus den damals von der Syrischen Armee kontrollierten Gebieten hätten stammen können. Im Gegenteil: Lege man die Karte des Weißen Hauses zugrunde, hätten sich am 21. August 2013 alle möglichen Abschussorte in der Hand der Rebellen befunden.
Auch ohne Chemiewaffen gehen die Giftgas-Angriffe weiter
Auch der amerikanische Enthüllungsjournalist Seymor Hersh stützte diese These. Im Dezember 2013 schrieb er über ein fünfseitiges Dokument des amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA, aus dem hervorgehe, was die US-Regierung immer abgestritten hat: Islamistische Milizen waren im August 2013 im Besitz von Sarin-Gas. Und die US-Regierung war darüber informiert. Wie Eren Erdem und Ali Şeker kam auch Hersh in seinem Text damals zu dem Schluss, die US-Regierung hätte einen Vorwand für ein militärisches Eingreifen gesucht.
Bekanntermaßen kam es dazu nicht. Nach Vermittlungen Russlands drängte der US-Kongress schließlich seine eigene Regierung, auf einen Militärschlag zu verzichten. Die syrische Regierung willigte ein, ihre Chemiewaffenvorräte zerstören zu lassen.
Obwohl die gemeinsame UN- und OPCW-Mission bereits im Juni 2014 die Zerstörung der letzten staatlichen Saringas-Bestände vermeldete, gingen die Angriffe weiter. Von mehr als 60 weiteren Chemiewaffen-Angriffen seit dem 21. August 2013 sprechen die Vereinten Nationen. Auch die verwackelten Bilder vom Beginn des Artikels stammen nicht aus Ghouta. Der Clip zeigt die die Folgen eines Saringas-Angriffs, der sich im März dieses Jahres rund 50 Kilometer südwestlich von Aleppo in Sarmin ereignete. Über den Schuldigen gab es dort keinen Zweifel mehr. Es war der IS. Im August beschloss der UN-Sicherheitsrat die Resolution 2235 (2015), nach der eine gemeinsame UN- und OPCW-Untersuchung klären soll, wer für die Giftgasangriffe verantwortlich ist.