Wer wird Premierminister?
Arbeitsminister Stephen Crabb verkündet seine Kandidatur, Justizminister Michael Gove stellt sich hinter Boris Johnson und Finanzminister George Osborne verzichtet [Update: Johnson gibt auf]
Am Morgen nach seiner Niederlage im Brexit-Referendum verkündete der britische Premierminister David Cameron, er sei nicht der richtige "Kapitän" für den von seinem Volk gewünschten Kurs und wolle sein Amt bis zum Oktober an einen Nachfolger übergeben. Am Montag gab seine Partei dann bekannt, dass dieser Nachfolger bereits Anfang September feststehen soll.
Der offensichtlichste Kandidat dafür ist Boris Johnson: Der ehemalige Londoner Bürgermeister ist nicht nur ein ausgesprochen unterhaltsames Rhetoriktalent, sondern führte auch die EU-Gegner unter den Tories an, deren Politik die neue Regierung dem Willen des britischen Volkes nach vertreten soll. Allerdings achten Parteien bei der Wahl ihres Spitzenpersonals nicht immer nur auf den Volkswillen, sondern auch auf andere Interessen, wie in der ersten Staffel des BBC-Originals der Serie House of Cards sehr anschaulich gezeigt wird.
Neben Johnson werden sich deshalb wahrscheinlich mehrere andere Bewerber um das Amt bemühen: Der erste, der dies gestern offiziell verkündete, ist David Camerons Arbeitsminister Stephen Crabb.
Anders als Gesundheitsminister Jeremy Hunt schließt Crabb, der vor dem 23. Juni ebenfalls für einen Verbleib in der EU warb, ein zweites Referendum aus (vgl. Referendum durch Wahlversprechen aushebeln?). Allerdings strebt er nach einem offiziellen Austrittsantrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags eine "enge Beziehung" mit der EU an, die sich vom Status Quo vor allem dadurch unterscheiden soll, dass das Vereinigte Königreich die Einwanderung in sein Hoheitsgebiet kontrollieren kann.
Finanzminister George Osborne erklärte dagegen, nicht als Nachfolger von Cameron zur Verfügung zu stehen. Er gilt als beschädigt, seit der Leiter der britischen Statistikbehörde seine im Brexit-Wahlkampf gemachte Behauptung, ein EU-Ausstieg werde jede britische Familie durchschnittlich 4.300 Pfund im Jahr kosten, als falsche Angabe zurückwies. Der ebenfalls als Kandidat gehandelte Justizminister Michael Gove, ein EU-Gegner, hatte sich bereits am Sonntag hinter Johnson gestellt.
[Update: Am Donnerstagfrüh verkündete Gove überraschend, dass er nun doch nicht mehr hinter Johnson steht und selbst kandidiert. Der Abgeordnete Nigel Evans meinte gegenüber der BBC, der überraschende Sinneswandel könnte sich ergeben haben, nachdem Gove von Johnson einen Kabinettsposten haben wollte, aber nicht bekam. Seiner Ansicht nach lässt die aktuelle Suche nach einem Vorsitzenden House of Cards wie die Teletubbies aussehen.]
[2. Update: Am Mittag erklärte Boris Johnson - noch überraschender - dass er sich nicht um das Amt des Premierministers bewerben wird.]
Mit Innenministerin Theresa May als Gegenkandidatin muss Johnson dagegen weiter rechnen: Einer vom Independent in Auftrag gegebenen YouGov-Umfrage nach liegt die EU-freundliche 59-Jährige bei Anhängern der Tories trotz ihres umstrittenen Lobes von Scharia-Rechtselementen und trotz ihrer Ablehnung der Europäischen Menschenrechtskonvention mit 31 zu 24 Prozent vor Johnson. Nimmt man alle Wahlberechtigten als Grundlage, verkürzt sich der Abstand jedoch auf 19 zu 18 Prozent, weil der lustig frisierte Altphilologe bei UKIP-Anhängern ausgesprochen beliebt ist - und genau auf solche Anhänger anderer Parteien kommt es im britischen Mehrheitswahlrecht an.
Bis Donnerstagmittag können noch weitere Bewerber ihr Antreten erklären: Darunter Erziehungsministerin Nicky Morgan (Remain), Energieministerin Andrea Leadsom (Leave) und der Hinterbänkler John Baron (Leave).
[Update: May hat inzwischen ihr Antreten öffiziell bestätigt, während Hunt und Morgan absagten. Hunt unterstützt jetzt May, Morgan Gove.]
[3. Update: Nach Ablauf der Anmeldefrist stehen jetzt alle Bewerber fest: Theresa May, Michael Gove, Andrea Leadsom, Stephen Crabb und der katholische Schotte und Atlantiker Liam Fox.]
Spaltet sich die Labour Party?
Einen Machtkampf gibt es aber nicht nur bei den Tories, sondern auch in der Labour Party: Deren Politiker hatten sich vor dem Referendum - bis auf die aus Niederbayern stammende Gisela Stuart und einige andere Abweichler - fast geschlossen für einen Verbleib in der EU eingesetzt und mussten danach feststellen, dass sich die Wähler gerade in ehemaligen Labour-Hochburgen für einen Ausstieg entschieden. Das befeuert die Angst, dass UKIP die neue Arbeiterpartei wird.
Viele Labour-Parlamentarier geben dem im letzten Herbst via Urabstimmung gewählten Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn die Schuld am Ausgang der Brexit-Abstimmung: Ein Teil von ihnen argumentiert, dass Corbyn sich am Montag vor der Abstimmung zwar für einen Verbleib in der EU aussprach, aber einschränkte, diese müsse sich seiner Meinung nach "dramatisch ändern", "viel demokratischer werden" und "viel mehr Rechenschaft ablegen" (vgl. Brexit: Nach der letzten Debatte und vor der Abstimmung). Andere Labour-Politiker, die in den deutschen Alleingängen einen zentralen Grund für den Meinungsumschwung in Richtung EU-Ausstieg sehen (vgl. UK: Brexit-Befürworter fast so stark wie -Gegner), sind irritiert darüber, dass ihr Vorsitzender die Politik der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel öffentlich lobte und meinte, sie habe alles richtig gemacht.
Diese - wenn auch unterschiedlich begründete - Ablehnung führte dazu, dass die Labour-Parlamentsfraktion Corbyn am Dienstag mit einer guten Dreiviertelmehrheit ihr Misstrauen aussprach - was den Parteivorsitzenden, der nicht von der Parlamentsfraktion gewählt wird, bislang ebenso wenig zu beeindrucken scheint wie David Camerons Aufforderung "For heaven's sake man, go!" oder der Antrag der Scottish National Party (SNP), als offizielle Opposition anerkannt zu werden, nachdem sie jetzt über 14 Abgeordnete mehr verfügt als in der Labour-Fraktion noch hinter Corbyn stehen.
[Update: Inzwischen bringt sich Angela Eagle als Corbyn-Herausforderin in Stellung.]
Vorher hatten zwei Drittel der Mitglieder des Labour-Schattenkabinetts ihren Rücktritt erklärt und Zweifel daran geäußert, ob man mit dem 67-Jährigen Wahlen gewinnen kann, die nach Camerons Rücktritt früher kommen könnten als geplant.
Da an der Labour-Parteibasis wenig darauf hindeutet, dass eine weitere Urabstimmung anders ausgehen würde als vor einem Jahr, halten es britische Medien nicht mehr für ausgeschlossen, dass sich die Partei in einen Corbyn- und einen Post-Blair-Flügel spaltet. Wegen des britischen Mehrheitswahlrechts birgt so eine Spaltung allerdings das Risiko, dass durch die Teilung der Wählerschaft dritte Kräfte viele Labour-Wahlkreise erobern und dass Labour in England und Wales politisch so bedeutungslos wird, wie das in Schottland bereits jetzt der Fall ist.
Hier wählen die ehemaligen Labour-Anhänger inzwischen vor allem die SNP, deren Regionalregierungschefin Nicola Sturgeon dem EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und dem EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker gestern bei einem Besuch in Brüssel versicherte, Schottland sei "entschlossen, in der Europäischen Union zu bleiben".
Bei dieser Aussage stützt sie sich nicht nur auf den eigenen politischen Willen, sondern auch auf das Brexit-Referendum, bei dem die Schotten und Nordiren - anders als die Engländer und Waliser - mehrheitlich für einen Verbleib in der EU stimmten. Sturgeon will deshalb ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum ansetzen, obwohl sich vor zwei Jahren 55 Prozent der wahlberechtigten Einwohner der Region für einen Verbleib im Vereinigten Königreich entschieden.
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