Referendum durch Wahlversprechen aushebeln?
Der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt will sich dem Brexit-Volksentscheid nicht beugen und Sahra Wagenknecht fordert Referenden über EU-Verträge in Deutschland
Fünf Tage nach dem Brexit-Referendum hat der Premierministerposten-Anwärter Boris Johnson im Telegraph einen längeren Beitrag veröffentlicht, in dem er den Bürgern versichert, das Vereinigte Königreich werde sich nach einem EU-Austritt nicht isolieren, sondern eine "neue und bessere Verbindung schmieden, die sich auf Freihandel und Partnerschaft statt auf ein Bundessystem gründet". Was sich ändern werde, ist, dass die britischen Bürger wieder die Kontrolle zurückerlangen und eine Politik abwählen können, wenn sie diese nicht möchten.
Der Verlust von Kontrolle an eine Bürokratie, die sich von Wahlen nur bedingt beeindrucken lässt, war seiner Ansicht nach mit der Hauptgrund für den Sieg des von ihm und dem UKIP-Vorsitzenden Nigel Farage angeführten Leave-Lagers - zusammen mit der Tatsache, das einfache Briten zusehen mussten, wie ihr eigenes Realeinkommen stagnierte, während die Einkünfte der FTSE-100-Manager inzwischen das Hundertfünfzigfache der Einkommen ihrer Angestellten betragen. Ein für einen Tory bemerkenswertes Argument, das darauf hindeutet, wie sich die Partei unter Johnsons Führung ändern könnte - und möglicherweise auch eine Botschaft an Farage, dass der ehemalige Londoner Bürgermeister nicht vorhat, die ehemalige Labour-Wählerschaft UKIP zu überlassen.
Johnsons Worten nach ging es bei der Abstimmung nicht um Angst vor Einwanderung, sondern um die Kontrolle darüber. Deshalb soll es auch weiterhin Zuzug geben - aber nach einem Punktesystem, das unter anderem die Interessen der britischen Wirtschaft berücksichtigt.
Volksentscheid durch Wahlversprechen aufheben?
Jeremy Hunt, der Gesundheitsminister im Kabinett Cameron, sieht die Kontrolle über die Einwanderung in einem ebenfalls von Telegraph veröffentlichten Brief als so zentral für die Brexit-Abstimmung an, dass er vorschlägt, die EU solle Großbritannien erlauben, dass das Land bei einer weiteren Mitgliedschaft die volle Kontrolle über seine Grenzen zurückerhält. Danach könnte man seiner Ansicht nach entweder ein zweites Referendum abhalten - oder man könnte die Forderung in das Wahlprogramm der Tories aufnehmen und einen Wahlsieg dieser Partei als implizite Aufhebung des ersten Referendums werten.
Wagt Camerons Nachfolger diesen Schritt, könnte er allerdings riskieren, dass sich die Wähler verschaukelt vorkommen und vermehrt UKIP-Kandidaten wählen, was im britischen Mehrheitswahlrecht größere Konsequenzen haben könnte als in Ländern mit Verhältniswahlrecht. Umfragen würden der Regierung allerdings Hinweise dazu geben, ob sie statt der Wahlprogrammlösung lieber ein zweites Referendum ansetzen oder die Sache lieber ganz bleiben lassen sollte.
Osborne kündigt nach Rating-Herabstufung Steuererhöhungen und Leistungskürzungen an
George Osborne, der britische Finanzminister, droht unterdessen in der BBC mit Steuererhöhungen und Leistungskürzungen, die seiner Ansicht nach nötig sind, um den Finanzmärkten zu zeigen, dass das Vereinigte Königreich auf eigenen Füßen stehen kann. Vorher hatten die Ratingagenturen Standard & Poor’s und Fitch Großbritanniens Kreditwürdigkeit herabgestuft und dem Land eine negative Zukunftsprognose ausgestellt, wodurch Staatsschulden potenziell teurer werden.
Standard & Poor’s senkte sein Rating gleich um zwei Stufen von AAA auf AA, was die Agentur mit einem "weniger vorhersehbaren, weniger stabilen und weniger effektiven politischen Kontext" sowie der Möglichkeit eines weiteren schottischen Unabhängigkeitsreferendums begründete. Die Ratingagentur Fitch, die Großbritannien vorher mit AA+ etwas niedriger bewertet hatte als S&P, sieht das Königreich nun ebenfalls als AA-Land. Auch hier dient die "Unsicherheit in der Folge des Referendums" als Begründung für die Herabstufung. Das erwartete Wirtschaftswachstum für 2017 und 2018 korrigierte Fitch von jeweils zwei Prozent auf jeweils knapp 0,9 Prozent. Moody’s, die dritte wichtige Ratingagentur, sieht das UK zwar weiterhin als Aa1-Land, warnt aber ebenfalls vor mehr Unsicherheit bezüglich der Wirtschaftsentwicklung.
Johnson bemängelt (anders als Osborne), die negativen Folgen eines Brexit würden sowohl in Großbritannien als auch im Ausland grotesk überzeichnet, während man positive Konsequenzen ignoriere. In diesem Zusammenhang hebt er hervor, dass die Londoner Börse immer noch besser dasteht als im letzten Herbst und dass das britische Pfund mehr wert ist als 2013 und 2014. Er spricht nicht von möglichen Steuererhöhungen und Leistungskürzungen, sondern von einer besseren Ausstattung des staatlichen Gesundheitssystems, in das man nun Mittel stecken könne, die bisher nach Brüssel flossen.
Die vorher in diesem Zusammenhang genannte Zahl von 350 Millionen Pfund pro Woche wiederholte er jedoch nicht. Nigel Farage hatte bereits kurz nach dem Referendumssieg betont, dass diese Zahl zu hoch gegriffen sei und er während des Wahlkampfes nie damit geworben habe. Rechnet man von den Bruttozahlungen Leistungen ab, die das Vereinigte Königreich aus Brüssel erhält, kommt man - je nach Berechnungsweise - auf Summen zwischen 100 und 250 Millionen pro Woche. Auf ein Jahr umgerechnet wären das immerhin noch 5,2 Milliarden Pfund, die die Regierung in mehr Ärzte und mehr Pflegepersonal investieren könnte.
Wagenknecht will Volksabstimmungen in Deutschland
In Deutschland hat währenddessen Sahra Wagenknecht, die Ko-Vorsitzende der Linken-Bundestagsfraktion, Volksabstimmungen bei Freihandelsabkommen und neuen EU-Verträgen in allen Mitgliedsländern gefordert. Das würde ihrer Ansicht nach "Europa so verändern, dass es nicht weiter zerfällt". Ihren Worten nach sorgt die EU in ihrem derzeitigen Zustand selbst dafür, dass immer mehr Bürger sie nicht wollen: "Solange die Menschen erleben, dass durch Brüsseler Einmischung ihre Renten sinken und ihre Jobs prekärer werden", so Wagenknecht, "muss man sich nicht wundern, dass die Ablehnung wächst." Ob sich Wagenknecht mit dieser Position in der Linkspartei durchsetzen kann, ist fraglich: Ein großer Teil dieser politischen Gruppierung hält es in solchen Fragen eher mit dem Spiegel-Kolumnisten Jakob Augstein.
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