Wer zuerst "Verschwörung!" ruft, hätte gewonnen?

Seite 2: "Extremisten träumen von einem deutschen Wutwinter"

Neben Parallelen zum RND-Text hat der Spiegel-Beitrag ein gewisses Politik-Verständnis exklusiv: Menschen, die mit dem politischen Mittel des Protestes öffentlich gegen eine bestimmte Politik demonstrieren oder "spazieren", als "Politikentfremdete" zu bezeichnen, könnte fast schon wieder als originell gelten.

Offenkundig gemeint ist hier: der Regierungspolitik gegenüber Entfremdete. Aber vielleicht gibt es ja tatsächlich nur die EINE, alleinige und einzige "Politik". Zumindest aus einer Spiegel-Perspektive.

Der Brandenburger Verfassungsschutz-Chef Jörg Müller wird zitiert: "Extremisten träumen von einem deutschen Wutwinter". Diese wollten dann die Stimmung aufgreifen und Werbung für ihre staatsfeindlichen Bestrebungen machen.

Dann kommt im Spiegel-Text eine – allerdings nur scheinbare – Beruhigungspille: Klar sei ihm, dem leitenden Geheimdienstler, allerdings auch, dass die meisten Menschen, die sich um die nächste Nebenkostenabrechnung sorgten, "keine Extremisten und kein Fall für den Verfassungsschutz" seien.

Sich sorgen – das scheint also ganz okay – solange solche Leute (und das dürften ja sehr, sehr viele sein) nur nicht ihren Protest im längst hinreichend geframten Rahmen auf die Straßen tragen, ließe sich ergänzen.

Ganz ähnlich dem RND-Text läuft auch der Spiegel-Beitrag auf ausdrückliche Verschwörungsmotive hinaus: Eine Demonstrantin in Bonn halte die Sanktionen gegen "Putins Russland" für falsch. "Schuldig seien die Nato und die USA, allen voran der sogenannte Deep State, eine Art Geheimregierung, die alle Strippen ziehe."

Dass etwaige "Strippenzieherei" mit Blick auf hypothetische Herbstproteste sich wie ein Roter Faden auch durch diesen Text zieht, scheint beim Spiegel nicht aufzufallen. Im Gegenteil – was stört der Verschwörungsbalken im eigenen Auge, wenn sich trefflich mit Vorwürfen auf Andere zeigen lässt: Solche Erzählungen wie jene vom "Deep State" seien "unter Verschwörungsanhängern weitverbreitet".

Fazit und Vorschläge

Dass auf beiden Seiten dieser sozialen und medialen Spaltungen, die sich gegenseitig und jeweils exklusiv "Verschwörung" zurufen und vorwerfen, kaum über soziale Verhältnisse, gesellschaftliche Strukturen oder Interessenkonflikte debattiert wird, scheint kein Zufall.

Entwicklungen werden, so oder so, übermäßig personalisiert und emotionalisiert, um über etwaige grundlegende Änderungen, zum Beispiel Vergesellschaftungen wichtiger Produktionsmittel oder auch wichtiger Medien, nicht reden und schon gar nicht entsprechend handeln zu müssen.

Um hinsichtlich entsprechend gesellschaftlicher (Re-)Produktion und gesellschaftlicher Kommunikation kurz mit zwei Vorschlägen von Bertolt Brecht mit Bezug auf das seinerzeit, hier um 1930, modernste Medium, das Radio, zu enden:

  1. Brechts Ansicht nach sollte aus dem Radio "eine wirklich demokratische Sache" gemacht werden, zum Beispiel, indem
  2. nicht nur Waren oder Botschaften verteilt würden, sondern auf ganz neue Weise wechselseitig und auf Augenhöhe produziert und kommuniziert würde – öffentlichen Angelegenheiten sollte wirklich "der Charakter der Öffentlichkeit" verliehen werden. Öffentlichkeit gleichsam als Produktivkraft.

Dann, denke ich heute, gäbe es – gesellschaftlich wie individuell – womöglich auch weniger Bedarf an UND geringere Wirksamkeit von "Verschwörungstheorien".