Wer zuerst "Verschwörung!" ruft, hätte gewonnen?

Gegenseitige Vorwürfe verschworener Gemeinschaften beidseits wachsender sozialer und medialer Spaltungen: Wie möglicherweise anstehende Sozialproteste im Vorhinein geframed werden.

In etlichen reichweitenstarken Medien, die weder als boulevardesk noch als alternativ gelten, lassen sich derzeit recht ähnliche Beiträge finden, mit Blick auf die relativ klar negativ konnotierende Einordnung demnächst womöglich anstehender Sozialproteste gegen die Regierungspolitik vor allem bezogen auf Aspekte wie Krieg, Energiekrise, Umwelt, Inflation und weiteren Sozialabbau.

Exemplarisch seien hier zwei erstaunlich ähnliche Beiträge im Überblick kritisiert – aus dem gedruckten Spiegel und ebenfalls in Printversion aus dem RND. Neben dem Framing etwaiger künftiger Demonstrationen als tendenziell rechtsextrem sowohl durch Regierungspolitik als auch durch Sicherheitsbehörden und Leitmedien ist bemerkenswert, dass hier ziemlich lupenrein "Verschwörungstheorie" praktiziert wird – also genau das, was Vertreter etablierter Medien ihren "Gegnern" immer wieder gerne vorwerfen.

"Die Stunde der rechten Strippenzieher", heißt das zentrale Feature in den zahlreichen deutschen Regional-Zeitungen des Redaktionsnetzwerkes Deutschland (RND) mit Sitz in Hannover am Montag, 1.August 2022. Der Autor Felix Huesmann schreibt (hinter der Bezahlschranke u.a. hier), ich zitiere aus der Printausgabe von der Märkischen Allgemeine Potsdam, Seite 2 und 3:

Nach dem Abflauen der Corona-Demos setzen "Querdenker" und Rechtsextremisten auf die nächste Krise: die Unzufriedenheit vieler Menschen wegen Gasknappheit und Inflation. Wieder ist von Umsturz die Rede. Wer plant den Herbst der Proteste?

Maßstäbe im Spiegelbild von Verschwörungsannahmen

Das ist ein bemerkenswertes Motiv – Strippen werden gezogen, etwas wird (im Verborgenen) geplant. Was, wenn nicht exakt so etwas, wäre eine klassische Verschwörungsannahme – um nicht den politischen Kampfbegriff zu benutzen: eine ziemlich lupeneine "Verschwörungstheorie"? Genau das besagt übrigens (bis auf das fehlende Komma) auch die entsprechende Erklärung der Bundeszentrale für politische Bildung.

Und zwar hier als Parallele sogar im Detail. O-Ton Bundeszentrale für politische Bildung (bnp):

Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen fragen: Wem hat etwas genützt?

Dieses angebliche Merkmal lässt sich zum Beispiel vor einem Hintergrund von historischem Materialismus sicher komplett fragwürdig finden als Kriterium dafür, tatsächliche Verschwörungsmythen zu kritisieren. Auch Bertolt Brecht hatte die gute alte Frage "Cui bono?" im Gedicht Der Zweifler im Jahre 1937 neu gestellt: "Wem nützt es, was ihr da sagt?"

Aber lassen wir im Sinne einheitlicher Standards diesen offiziellen bpb-Maßstab gelten – und es wird klar, dass sich genau dieses Merkmal im O-Ton von RND-Journalist Felix Huesmann mit Blick auf etwaige Sozialproteste gegen die Regierungspolitik im Herbst findet und zwar schon in der Unterzeile der Hauptüberschrift. Er schreibt dort: "Wer profitiert davon?"

Im Text der bpb heißt es weiter im kritischen Hinblick auf Verschwörungsannehmende:

Wenn sie jemanden gefunden haben, glauben sie, dass derjenige schuld ist. Verschwörungstheoretiker und Verschwörungstheoretikerinnen denken: Diejenigen, die von einer Krise Vorteile haben, müssen die Schuld an der Krise haben. Sie sagen: Diese Menschen sind böse und wollen anderen schaden.

Fragt sich, inwiefern – gemessen an solchem Maßstab – Journalist:innen etablierter Medien sich den offiziellen behördlichen Vorwurf gefallen lassen müssten, genau solchen Verschwörungsmythen anzuhängen. Behalten wir also diese deutliche distanzierende Definition im Kopf und schauen wir auf wichtige Aspekte der beiden Texte:

Im RND-Text heißt es u.a. "Politikerinnen und Szenebeobachter fürchten eine von Rechtsextremen und Demokratiefeinden gesteuerte (sic!) neue Protestbewegung im Herbst". Der Text zitiert Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD): Erhöhte Gaspreise träfen "die Menschen" hart. Das gebe "Extremisten die Chance, Menschen zu mobilisieren". Dies müsse man im Auge haben.

Mehrfach wird über eine "Störwirkung" von Protesten geschrieben, also eine deutlich negative Abweichung vom Normalzustand.

"Vernünftige Menschen – bleibt besser zuhause"?

Nahegelegt werden nicht nur Vergleiche, sondern Gleichsetzungen früherer und gegenwärtiger Proteste mit etwaigen künftigen – im Sinne von: "Vernünftige Menschen – bleibt besser zuhause!" Denn: "Dieses Protestpotential" werde "vielerorts zunehmend von Rechtsextremen dominiert". Der Protestforscher im Ruhestand, Dieter Rucht, sagt laut Artikel, es brauche "Gruppen, die Proteste initiieren, koordinieren und lenken".

Selbst die Sozialpsychologin Pia Lamberty, die zurecht darauf verweist, dass Proteste "an sich nichts Schlechtes" seien, ja, sie gehörten als etwaiges Korrektiv sogar zu einer demokratischen Gesellschaft – selbst diese relativ vernünftige Stimme wird schließlich passend gemacht zum grundlegenden Narrativ: Gefährlich werde es dann, wenn Rechtsextreme solche Proteste vereinnahmten oder selbst starteten.

Woher der soziale Resonanzboden für Unzufriedenheit und Proteste kommen mag, welche politischen und polit-ökonomischen Alternativen zum aktuellen Regierungskurs es gibt oder gäbe (gerade auch progressive), wie Protest sich anders als "rechtsextrem" artikulieren könnte – dazu äußerst wenig bis nichts in diesem langen Text.

Eine gewisse Ironie der Geschichte als Pointe ist der Info-Kasten zum Text, mit der Überschrift: "Im festen Glauben an die Verschwörung". Damit sind an der Stelle natürlich ausschließlich Verschwörungsgläubige im Sinne von Corona-Leugnung, Putin-Sympathie etc. gemeint.

Bloß keine dritten Wege oder Ähnliches

Doch so wichtig es bleibt, solchen oft irrationalen, regressiven und reaktionären Tendenzen kritisch entgegenzuwirken: Das heißt nicht, die typischerweise spiegelbildlichen, komplementären Verschwörungsmythen der Mächtigen in Wirtschaft, Politik und Medien kritiklos durchzuwinken.

Diese scheinbare dualistische Frontstellung findet sich ja auch auf beiden Seiten der gegenwärtig wachsenden sozialen und medialen Spaltungen: Entweder du bist mit der Regierung, oder aber du bist gegen die Regierung. Bloß keine dritten Wege oder Ähnliches.

Im Spiegel hat eine lange aktuelle Spiegel-Story nicht nur das gleiche Thema, sondern (erstaunlich) viele inhaltliche und sprachliche Parallelen (hier zu finden hinter der Bezahlschranke).

Ich zitiere aus der gedruckten Ausgabe, Heft 30/2022, Seiten 14 bis 17. In der Unterzeile wird der Tenor angestimmt: Nach Migration und Corona setzten "Rechtsextreme und Verschwörungsanhänger auf das nächste Aufregerthema – die Gaskrise und die explodierenden Preise".

Die neun Journalist:innen, deren Namen als Verfassende unter dem Text stehen, scheinen ihren ganz speziellen Traum von Ruhe und Ordnung zu haben: "So also hätte alles enden können. Die Maßnahmen gegen die Pandemie: weitgehend vorbei. Der Erfinder der "Querdenker": sitzt im Knast. Die Proteste: ebben ab. Und all die hässlichen Szenen der vergangenen Jahre – der Sturm auf den Bundestag, die Fackelmärsche vor Politikerhäusern – wären bald verblasst wie ein ferner Fiebertraum" (sic!).

Aber das Leben ist kein (reines) Wunschkonzert, auch nicht für Spiegel-Mitarbeitende: "Doch wie es aussieht, kommt es anders. Die Protest-Karawane (sic! Nicht: der Protest-Zug oder die Protest-Bewegung, nein, die "Karawane" – laut Wikipedia ein Phänomen aus Vorder- und Mittelasien bzw. aus Nordafrika; also nichts, was wohl eigentlich hierher gehörte, d.A.), eine diffuse Mischung aus Coronaleugnern, Verschwörungsanhängerinnen, Reichsbürgern, Rechtsextremen und Polititikentfremdeten", ziehe weiter und habe ihr neues Thema gefunden: die Gaskrise und die explodierenden Preise in Deutschland.

Schuld seien aus Sicht der so Bezeichneten natürlich "die da oben", daran zumindest habe sich nichts geändert.