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Seite 3: Der harte akademische Arbeitsmarkt

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Um noch etwas tiefer auf die Spielregeln der Arbeitswelt einzugehen, will ich am Ende das Gebiet analysieren, das ich am besten kenne: den akademischen Arbeitsmarkt. Ich hatte gerade erst richtig mit dem Studium angefangen, als man 2002 das neue Hochschulrahmengesetz verabschiedete. Mit diesem und weiteren Gesetzen wurden nicht nur im Rahmen der Bologna-Reform die Weichen für die Bachelor- und Master-Studiengänge gestellt, sondern auch für die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse.

Die Abschaffung des sogenannten Mittelbaus zwischen Studium und Professur wurde in der Diskussion als "Verschrottung einer Generation" bezeichnet. Befristete Verträge wurden seitdem zur Regel, feste Anstellungen so gut wie nur noch auf dem Niveau von Professorinnen und Professoren angeboten. Wie die Zahlen nahelegen, haben sich die Arbeitsbedingungen seitdem an den Hochschulen radikal verändert.

Unsichere Arbeitsbedingungen für die Mehrheit

Während sich die Anzahl Studierender in Deutschland von einer Million im Jahr 1980 auf 2,7 Millionen im Jahr 2014 beinahe verdreifachte, blieb die Anzahl der Professuren, vor allem unter Berücksichtigung der Wiedervereinigung, nahezu unverändert. Auf die Legionen von Studierenden kamen so im Jahr 2009 nur knapp 40.000 Professuren. Was im Gegensatz zu den Lehrstühlen stark zunahm, war die Anzahl der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mit ca. 146.000 gab es 2009 fast viermal so viele von ihnen wie 1980. 10

Ganze 83% der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren 2009 mit befristeten Verträgen angestellt, Tendenz steigend. Dazu muss man ergänzen, dass mit den Gesetzesänderungen auch eine maximale Befristungsdauer von zwölf Jahren eingeführt wurde. Davon gibt es zwar Ausnahmen, beispielsweise für Stellen aus Drittmitteln, doch auch diese führen nicht zur Festanstellung.

Das durchschnittliche Alter für die Erstberufung auf eine Professur liegt in Deutschland aber bei 41 Jahren. Wenn Absolventinnen und Absolventen Anfang bis Mitte Zwanzig ihren ersten Mitarbeitervertrag unterschreiben, fehlen später also im Mittel mehr als vier Jahre. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass es für drei der vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohnehin keine Professur gibt. Es sind noch weniger, wenn man die wissenschaftliche Konkurrenz aus den Fraunhofer-, Helmholtz-, Leibniz- und Max-Planck-Instituten mitberücksichtigt.

Dass man bei der Einführung der Juniorprofessuren keine Langzeitperspektive vorschrieb, ist ein Treppenwitz der deutschen Hochschulgeschichte. Man stelle sich einmal vor, Wirtschaftsunternehmen würden ihren Führungsnachwuchs vertraglich dazu zwingen, nach spätestens sechs Jahren zur Konkurrenz zu wechseln. An den Hochschulen ist das die Regel. Mit vielen Jahren Verspätung werden inzwischen Karrierepfade wie der angelsächsische Tenure Track (von engl. tenure, Festanstellung) vorgeschlagen.

Nahezu unerfüllbare Kriterien

Damit soll wissenschaftlichem Personal bei Erfüllung bestimmter Zielvereinbarungen eine feste Stelle gegeben werden. In der vorherrschenden Wettbewerbsmentalität wird man mit Verweis auf Qualitätskontrolle und Effizienz wohl eher mehr als weniger Resultate vorschreiben. Diese lassen sich in der Wissenschaft zudem schlecht planen. Beliebte Beispiele hierfür sind Publikationen und eingeworbene Drittmittel, weil sich diese am einfachsten zählen lassen.

Die Beurteilungen finden in der Regel dreijährlich statt. In diesem Zyklus muss man also Forschung planen, ausführen und dann auch noch gut publizieren. Die Erfolgsquoten bei den umkämpftesten Zeitschriften und Drittmitteln sind aber kaum höher als 10%. Der damit einhergehenden Arbeits- und Wettbewerbsdruck ist so hoch, dass führende Forscherinnen und Forscher schon vom "Hyperwettbewerb" sprechen. Obwohl immer wieder betont wird, dass diese Spielregeln den wissenschaftlichen Nachwuchs korrumpieren, schlecht für Wissenschaft und Menschen sind11, ändert sich daran nichts.

Frauenförderung in der Wissenschaft

Die Politik greift auch hier vermehrt mit Vorgaben zur Frauenförderung ein. Es spricht zwar viel dafür, an den Hochschulen mehr Professorinnen zu haben. Mit dieser Absicht gaukelt man aber gleichzeitig eine oberflächliche Chancengerechtigkeit vor. Selbst wenn bald 100% der Professuren mit Frauen besetzt wären, wären gut drei Viertel der Angestellten nach wie vor billige Arbeitskräfte auf Abruf und ohne Langzeitperspektive. Dabei mangelt es mit bald drei Millionen Studierenden kaum an der Rechtfertigung für feste Stellen.

Womit wir wieder beim allgemeinen Arbeitsmarkt und dem ursprünglichen Thema wären. Auch dort greifen befristete Verträge um sich, ersetzt man permanente Stellen durch billigere Leiharbeit, Neben- und Minijobs. Diese verlangen den Angestellten sehr viel ab, bieten dabei aber vergleichsweise wenig. Die Betroffenen sind meistens zu jung, um von den guten Tarifverträgen zu profitieren, oder schon zu alt, um auf dem Arbeitsmarkt als gut vermittelbar zu gelten.

Es ist deprimierend, wie lange es gedauert hat, bis sich die politischen Entscheidungsträger überhaupt nur auf den Mindestlohn einigen konnten. Damit werden die grundlegenden Probleme geringerer Partizipation und Privilegien von Millionen Menschen am Arbeitsmarkt aber nicht behoben. Die jüngst beschlossene Frauenquote für Aufsichtsräte ist ein Witz, wenn sie als Beispiel für Chancengerechtigkeit dargestellt wird: Sie dürfte vor allem einflussreichen Wirtschaftsfreundinnen der Politikerinnen und Politikern nutzen. 99,9% der Frauen und Männer werden davon nichts haben.

Chancengerechtigkeit für alle

Chancengerechtigkeit ist ein fundamentales Anliegen eines sozialen und demokratischen Rechtsstaats. Das Problem reicht also viel weiter als der mittlere Gehaltsunterschied von Frauen und Männern. Es geht um nicht weniger als ein Menschenbild, das sich entweder an den Bedürfnissen der Menschen orientiert oder an den Anforderungen des Marktes. Letzteres führt zu einem stets zunehmendem Anpassungs- und Leistungsdruck, für den man andere Interessen zurückstellen muss.

Ob Generation X oder Generation Y - immer mehr Arbeit wird durch eine Generation auf Abruf erledigt, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern Europas und darüber hinaus. Dabei geht es auch um gleiche Chancen für Frauen und Männer, doch das Problem wird so verkürzt und spaltet die Menschen in zwei Gruppen, wo Zusammenarbeit viel wichtiger ist.

Für Männer wie Frauen gelten Geschlechterrollen, die mit bestimmten Erwartungen, Stereotypen und Klischees einhergehen. Diese können die Freiheit aller Menschen einschränken. Die Chance, zu den grundlegenderen Voraussetzungen von Karriere, Familie und anderen Wünschen, ja den Voraussetzungen für ein gutes Leben vorzudringen, hat Die Anstalt vom 28. April über Feminismus verpasst.

Dabei ist aber nicht nur das Bedürfnis nach Feminismus lebendig, sondern nach einer breiteren gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung schlechthin. Die Identifikation der Härten, unter denen viele Frauen leiden, mit dem Gesicht eines typischen Mannes sexualisiert nicht nur ein gesellschaftliches Problem. Sie verhöhnt obendrein auch die vielen Männer, die unter denselben Härten leiden oder sich für deren Überwindung einsetzen.

Stephan Schleim ist Assoziierter Professor für Theoretische Psychologie an der Universität Groningen. Nach fünf Jahren Studium und zehn Jahren Forschung und Lehre an acht Einrichtungen in vier Ländern erhielt er kürzlich den ersten festen Vertrag seines Lebens.