"Werden wir Verfassungsschützer!"
Republikanische Alternative: Robert Habeck stimmt die Grünen auf dem Parteitag in Bielefeld auf die Erdbeben ein, die kommen werden. Kommentar
Im traurigen Monat November war's, /Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,/ Da reist ich nach Deutschland hinüber.
Ein kleines Harfenmädchen sang./Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr/ Gerühret von ihrem Spiele.
Sie sang vom irdischen Jammertal,/ Von Freuden, die bald zerronnen,
Vom jenseits, wo die Seele schwelgt/ Verklärt in ew'gen Wonnen.
Heinrich Heine
Gelb-Schwarz-Grün: Jamaika ist überall, schon im Dresscode des Führungsduos. Denn es wird ernst. Robert Habeck wurde ernst: "große, drängende, dringliche Probleme" sah der grüne Bundesvorsitzende, "tektonische Verschiebung in der globalen Ordnung" und das Heraufziehen einer strukturellen Verschiebung in der globalen Ökonomie. Es stehe viel mehr auf dem Spiel als Umweltschutz und Klima, als Milieu-Befindlichkeiten und Partei-Wehwehchen. Die Demokratie als solche stehe auf dem Spiel.
Habecks Antwort bei seiner Rede auf dem Parteitag: Eine grüne Kehrtwende hin zu Institutionenverteidigung. Mit anderen Worten: Republikanismus. Die Zeiten hätten sich gewandelt. "Wir leben in der besten und freiesten Republik, die es jemals gab. Verteidigen wir diese Republik und sorgen wir dafür, dass sie nicht faschistisch abgeräumt wird. Werden wir Verfassungsschützer!"
Die gesamte AfD sei "ein Fall für den Verfassungsschutz" geworden. Denn aus Worten und Orwellscher Sprachverdrehung würden Taten folgen.
Eine ökonomische Krise wird sich in das Herz der Gesellschaft fressen
Der derzeitige Boom der Rechtsextremisten finde, obwohl fern davon, dass es sich um ein Wohlfahrtsphänomen handele, noch unter optimalen ökonomischen Bedingungen statt: Wohlstand und sprudelnde Steuer-Einnahmen. Aber: "Was passiert, wenn jetzt auch noch eine ökonomische Krise in diese Demokratie hereinbricht? Sie wird sich in das Herz der Gesellschaft fressen."
Daher: Ökonomiefragen dürften von den Grünen nicht nur in Bezug auf das Klima debattiert werden. "Sondern wir müssen sie auch in Bezug zur Demokratie setzen."
Was wird passieren, wenn eine ökonomische Krise in diese aufgeheizte Stimmung hereinbricht?
Die Zeichen mehren sich, dass wir vor ökonomisch gewandelten Zeiten stehen, so Habeck. "Es wird keine kurze schnelle Krise sein." Angesichts der Verschiebung in der globalen Ordnung fordern die Grünen eine Neujustierung der Marktwirtschaft, Märkte, die den Menschen dienen, ein neues Ordnungsrecht und ein "großes Investitionsprogramm." Über Jahre habe Deutschland unter dem Durchschnitt investiert. Nun müsse in Infrastruktur, öffentlichen Nahverkehr, Schulen und Turnhallen investiert werden. "Unser Internet ist eine Lachnummer, selbst in Europa."
Grüne & Piraten: Das Internet als Waffe für Antifaschisten
Auftritt Marina Weisband. Der Ex-Star der Piratenpartei erklärte "als Frau und als Jüdin" (Habeck) den Grünen, was sie dringend nötig haben: Was moderne Liberalität bedeutet. "Halle" sei keine Zäsur und kein Wendepunkt für Jüdinnen und Juden gewesen. "Viele von uns haben es kommen sehen. Die meisten von uns sehen auch das Nächste kommen."
Der Schutz der marginalisierten Gruppen ist für Weisband die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft. Und dann ein ganz entscheidender Satz:
Ja, das bedeutet Dialog. Ja: das bedeutet, dass wir die Besorgten ernst nehmen müssen. Aber doch nicht die Rassisten darunter, sondern diejenigen, die Angst haben, diejenigen, die Opfer dieser Politik sind.
Marina Weisband
Weisband fordert von den Grünen ein klares, positives Bild zu formulieren, wie eine offene Gesellschaft aussehen kann. Und zu verstehen, wie moderne Radikalisierung funktioniert. "Radikalisierung breitet sich überall aus, wo wir Bereiche nicht erfasst haben." Eine Spaltung der Kommunikation sei schuld: Man brauche offenere Strukturen. "Wir leisten Hass Vorschub, wenn wir alles nur verteufeln." Die Grünen brauchen eine aktive Zivilgesellschaft, die online agiert, die das Internet als eine "wirkmächtige Waffe für Antifaschisten" begreift. "Das gehört auch zu zivilem Engagement."
Die Grünen sind der wahre Kontrapunkt zur AfD
Bielefeld, behaupten nicht wenige, gibt es gar nicht. Ein Traumreich, eine idealtypische Verdichtung Westdeutschlands und der bundesrepublikanischen Ästhetik. Hier ausgerechnet trafen sich die Grünen zur neuesten Bundesdelegiertenkonferenz, vulgo: Parteitag. Sie trafen sich, um sich vom alten Entsagungslied und grünem Eiapopeia zu verabschieden und eine Art hedonistischen Realismus zu begründen.
Angesicht der erkennbar zu Ende gehenden Ära Merkel stelle sich die Frage danach, wie diese neue Zeit bestimmt wird. Das erste Ergebnis: Die Grünen sind die einzige Chance dafür, dass sich in Deutschland etwas verändert. Die Grünen sind der wahre Kontrapunkt zur AfD. Auch sie wollen die Gesellschaft verändern. Sie sind freiheitlich, wo die AfD autoritär ist, sie sind offen, wo die AfD starr und reaktionär ist.
Die entscheidende Frage ist allerdings, ob die Grünen das Autoritäre ihrer Vergangenheit wirklich hinter sich lassen können. Die entscheidende Frage ist, ob sie sich liberalisieren und zu einer wahrhaft freiheitlichen Partei werden können.
Es muss in Deutschland immer alles gemeinsam und gemeinschaftlich sein, kollektiv und einheitlich. Dafür standen einstweilen auch die Grünen. Das muss sich ändern.
Es wird ernst
Eine um sich selbst kreisende Koalition und eine neue Volkspartei, die in der Mitte angekommen ist. Der Winter naht, und wo es kalt wird, gehen die Schüler in ihre Klassenzimmer zurück; Greta bleibt auf ihrem Segelboot, die Grünen aber machen Politik.
Es wird ernst. In den entstehenden "Weimarer Verhältnissen", in einer Krise, die zwar noch keine gesellschaftliche ist, aber eine politische, in der die Institutionen und die Institutionenloyalität der Bürger zunehmend in Frage stehen, und in der eine ökonomische Krise droht, positionieren sich die Grünen klar und unmissverständlich als Verteidiger des Republikanischen.
Die Erdbeben, die kommen werden
Wir sind gesessen ein leichtes Geschlechte/ In Häusern, die für unzerstörbare galten/
Bertolt Brecht
(So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan/ Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten).
Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich/ Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit/
Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen/ Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit.
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