Weshalb beteiligen sich Syriens Kurden nicht an der Revolte?
Jahrzehntelang waren sie erbitterte Gegner des Regimes - nun aber verhalten sie sich auffallend ruhig
Burhan Ghalioun ("Das syrische Volk hat einen sehr langen Atem"), Vorsitzender des Syrischen Nationalrates (SNC), der sich als Syriens führende Oppositionsplattform versteht, erregte unlängst die Gemüter. In einem Fernsehinterview gegenüber dem arabischsprachigen Sender der Deutschen Welle erklärte er, Syriens "Identität" sei eindeutig eine "arabische". Der Aufschrei unter Syriens Kurden war groß. Immerhin stellt ihre Ethnie (je nach Quelle) zwei bis vier Millionen der insgesamt 23 Millionen Syrer.
Die Empörung steigerte sich noch als Ghalioun zudem die Stellung der Kurden in Syrien mit der der Migranten in Frankreich verglich. "Der Akademiker Ghalioun, der an der Pariser Sorbonne politische Soziologie lehrt, sollte wissen, dass es bis zum Abkommen von Sykes-Picot 1916 kein ‚Syrien‘ in seinen heutigen Grenzen gab", sagt Ibrahim Youssef, kurdischer Journalist und seinerseits Mitglied im SNC.
Die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien zerteilten die Region nach ihrem Gusto und zersplitterten so auch Großkurdistan, das jahrhundertealte kurdische Siedlungsgebiet, das sich unter anderem über die Türkei, Irak und Syrien erstreckt.
Für die Kurden hatte dies allerortens tragische Konsequenzen, zumal parallel zur unnatürlichen Grenzziehung der Panarabismus aufzog. 1961 wurde Syrien zur "Arabischen Republik Syrien", ein Jahr später erfolgte eine Volkszählung, die zahllosen Kurden die syrische Staatsbürgerschaft aberkannte, mit der fadenscheinigen Begründung, sie seien illegal aus der Türkei eingewandert.
Ghaliouns Festhalten an der arabischen Landesidentität gilt vielen Kurden daher als Neuauflage der Baath-Ideologie, die doch eigentlich wegrevoltiert werden soll. Doch Ghalioun steht nicht alleine da. Auch der zweite große Oppositionsblock, das Syrische Nationale Koordinationskomitee für Demokratischen Wandel (NCC), der mit dem SNC um die Rolle des führenden Oppositionsbündnisses wetteifert, versteht Syrien als "unteilbaren Bestandteil der arabischen Nation". Anlass genug für die kurdische Partei Yekiti innerhalb kürzester Zeit wieder aus dem NCC auszutreten.
Neues Kurdenbündnis mit vagen Forderungen
Das Diktum des arabischen Nationalismus hält tatsächlich viele Kurden davon ab, sich dem Aufstand anzuschließen. Zwar betont Abdulbaset Sieda, kurdisches Mitglied im SNC, dass unter den 190 Mitgliedern im SNC 23 Kurden (darunter Vertreter der Parteien Yekiti, Azadi und der Zukunftsbewegung) seien, was ihrem prozentualen Anteil an der syrischen Gesellschaft entspräche.
Allerdings sind Zahlen- und Potenzspiele in der syrischen Opposition recht beliebt und daher mit Vorsicht zu genießen. Fakt indes ist, dass am 26. Oktober zehn kurdische Parteien (zahlenmäßig also weit mehr als im SNC vertreten) im syrischen Qamishli einen "kurdischen Nationalkongress" abhielten und ihre eigene Erklärung herausbrachten . Ihre wichtigsten Forderungen: Syrien soll ein säkularer Zivilstaat werden, dessen Verfassung sie als zweitgrösste Volksgruppe anerkenne. Auch seien sie nicht bereit, mit dem Assad-Regime alleine zu verhandeln.
Keine Forderung nach Regimesturz
Schon das Wörtchen "alleine" genügt, um ihre Unentschlossenheit gegenüber der Linie des SNC anzuzeigen. Letzterer lehnt jeden Austausch mit dem Regime (ob mit oder ohne Dritte) kategorisch ab. Schließlich lautet sein oberstes Ziel: Regimesturz. Zu dieser Deutlichkeit aber brachte es unter den existierenden 14 syrischen Kurdenparteien bislang nur eine - alle anderen üben sich in Zurückhaltung.
Auch die im SNC vertretenen Kurden wirken unschlüssig oder gelähmt. Siamend Hajo von der Berliner Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie erklärt die Hintergründe: Zum einen herrscht Angst. Bislang seien die Kurdengebiete in Syrien von Panzer-Szenarien à la Homs, Hama oder Daraa verschont geblieben und mit Glacéhandschuhen angefassten worden. Kein einziger Demonstrant habe dort sterben müssen.
Zudem habe das Assad-Regime zwei der wichtigsten kurdischen Anliegen nach Ausbruch der Aufstände flugs erfüllt. Registrierte "Staatenlose" wurden eingebürgert und ein von Baschar al-Assad erst 2008 erlassenes Dekret wieder aufgehoben. Dieses hatte Besitz, Verkauf und Verpachtung von Grundstücken in kurdisch besiedelten Gebieten derart erschwert, dass unter Kurden bereits die Rede von einer "ethnischen Säuberung" war.
Zwei offizielle Kehrtwenden, die, so Hajo, nicht zuletzt mit Blick auf Damaskus und Aleppo erfolgt seien: "Viele Kurden leben dort. Ihre Mobilisierung und damit ein Ausbruch der Unruhen in den beiden noch ruhigen Großstädten, ist das Letzte, was das Regime benötigt." Auf kurdischer Seite kommt zu alldem noch die Distanziertheit zur Muslimbruderschaft hinzu.
Kurden und Muslimbrüder
Trotz ihrer Exiliertheit seit 1980/82 ist diese im SNC aktuell gut vertreten. Zum Argwohn mancher Kurden. Zunächst wäre da die religiöse Profilierung der Bruderschaft. Gemeint sind nicht etwa dschihadistische Tendenzen: Ihr, zuletzt 2004 veröffentlichtes politisches Programm, unterstreicht ihre Gewaltfreiheit. Allerdings visisiert sie eine "progressive Islamisierung" der Gesetze an. Dies dürfte nicht nur so machem arabischen, sondern auch kurdischem Sunniten gefallen - sind doch die meisten von ihnen gläubig. Religiös-islamische Parteien bildeten sie deshalb dennoch nicht.
"Im Vordergrund steht für sie vielmehr, endlich ihre Sprache sprechen zu können und als Ethnie anerkannt zu werden," erklärt Kamiran Hudsch, Dozent für Arabisch an der Universität Bochum mit syrisch-kurdischen Wurzeln. Die Muslimbrüder hingegen, die insofern auf der "sonnigeren" Schicksalseite stehen, als sie Araber sind, fokussieren den religiösen Aspekt - bei sich wie bei den Kurden, die sie schlicht als Muslime wahrnehmen. "Ihren ethnischen Bedürfnissen schenken sie keine Beachtung", ergänzt Hudsch.
Zwiespältige Rolle der PYD
Hinzu kommt die gewisse Nähe, die Syriens Muslimbruderschaft zur Türkei pflegt, die bekanntlich ihrerseits die Kurden unterdrückt. Salih Muslim Muhammad, der Vorsitzende der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geht gar soweit, die Bruderschaft zu beschuldigen, ein Abkommen mit der Türkei unterzeichnet zu haben: Im Fall ihrer Machterlangung würden sie die Existenz der Kurden leugnen.
SNC-Mitglied Sieda dementiert dies entschieden und auch Siamend Hajo glaubt nicht an die Existenz eines solchen Abkommens. Dies wird wohl auch stimmen, zumal die Glaubwürdigkeit des PYD-Führers ohnehin recht fragwürdig erscheint, wenn er den SNC beschuldigt, als "Handlanger der Türkei" für die Aufstände in Syrien verantwortlich zu sein.
Die abstruse Behauptung ist allerdings vor dem Hintergrund der PYD zu sehen: 2003 auf Beschluss der Arbeiterpartei Kurdistans PKK als deren Schwesterorganisation in Syrien gegründet, ist sie derart loyal gegenüber Abdullah Öcalan, dass viele ihr vorwerfen, ausschließlich türkisch-kurdische Interessen zu verfolgen und den Syrienkontext außen vor zu lassen. Und die Vorwürfe gehen noch weiter: Mehrere kurdische Aktivisten, die an den Demonstrationen in Syrien teilgenommen haben, sollen von der PYD bedroht und zusammengeschlagen worden sein, berichtet Hajo.
Wer ermordete Maschaal Tammo?
Hinter vorgehaltener Hand wird gar spekuliert, ob nicht die PYD für die Ermordung Maschaal Tammos verantwortlich zeichne. Der Führer der Zukunftspartei war am 7. Oktober in seiner Wohnung in Qamishli getötet worden. Damit war diejenige Oppositionsfigur beseitigt worden, die das Verlangen des SNC nach Regimesturz teilte und die generellen Forderungen nach Menschenrechten und freien Wahlen über spezifisch kurdische Ziele stellte. Last but not least: Tammo war ein Charismatiker mit einem Mobilisierungspotential, das Syriens junge Kurden bei den teils greisen übrigen Parteiführern vermissen.
Welche Verdächtigungen auch immer angestellt werden - sie werden nicht offiziell ausgesprochen. Die ohnedies aufgesplitteten Fraktionen meiden in der gegenwärtig angespannten Situation zusätzliche Zwietracht, zumal sie die PYD ohnedies nicht abdrängen können. Zwar scheint ihre Anhängerschaft bei der Jugend nicht sonderlich groß, dennoch ist sie dank der PKK die bestorganisierte und finanziell bestunterstützte Kurdenpartei in Syrien.
Ein Umstand, den sie gegenwärtig nützt, um sich auf die Zeit nach einem potentiellen Regimesturz vorzubereiten. Nebst der Eröffnung diverser kurdischsprachiger Kulturzentren und Vereine, habe sie - vom Geheimdienst völlig unbehelligt - 400 ihrer Kader aus den irakischen Kandil-Bergen zurück geholt, um neue Mitglieder anzuwerben, berichtet Hajo.
Sie fährt zweigleisig: Offizielle stellt sie sich mit dem Regime gut, darüberhinaus aber will sie für alle Eventualitäten bereit sein, um das Vakuum sofort zu füllen.
Allerdings, so Hajo, wolle die PYD (auch wenn sie es könnte) keine bewaffnete Kämpfe in Syrien führen.
Verzicht auf einen eigenen Staat
In ihrer Absage an jegliche Waffengewalt überschneidet sich die PYD mit den übrigen Parteien ebenso wie in ihrem Verzicht auf einen eigenen Staat. Dies resultiert daraus, dass in Syrien weit weniger Kurden als etwa in der Türkei leben und sie zudem geografisch zu versprenkelt sind, als dass sich daraus ein zusammenhängendes Territorium ergeben würde.
Dass sie also auf eine innersyrische Lösung angewiesen sind, wissen sie. Nicht aber, wie diese im Detail aussehen sollen. So sprechen manchen von einer nicht näher definierten "Selbstverwaltung", während etwa die PYD den völlig nebulösen Begriff Abdullah Öcalans von der "demokratischen Selbstständigkeit" nachbetet, die auf kulturellem Weg zu "freien Menschen" erziehen will, ohne sich mit politischen Institutionen aufzuhalten.
Allegemeiner Konsens scheint somit lediglich zu sein, dass im Prinzip eine Lösung des Kurdenproblems herbeigeführt werden muss. Der viel gescholtene Burhan Ghalioun jedenfalls betonte in einer kürzlichen Fernsehansprache an das syrische Volk, die er auf AL-Jazeera gab, plötzlich ausdrücklich die Zugehörigkeit der Kurden zur syrischen Gesellschaft. Was immer dies heißen mag.